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Millionen Flüchtlinge in und aus Irak: "Stiller Exodus" aus dem Zweistromland

UNHCR beklagt größte städtische Flüchtlingsbevölkerung in der Geschichte des Hilfswerks

Von Karin Leukefeld *

Bis zu acht Millionen Iraker sind nach Angaben der Vereinten Nationen »dringend« auf ausländische Hilfen angewiesen, vier Millionen gelten als Vertriebene. Die Notlage der irakischen Bevölkerung innerhalb und außerhalb des Landes war Gegenstand einer zweitägigen Konferenz des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Genf.

Für das Jahr 2007 hat die Organisation zu Spenden von 60 Millionen US-Dollar (44,3 Millionen Euro) aufgerufen. UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres bezeichnete die irakischen Vertriebenen als »die größte städtische Flüchtlingsbevölkerung in der Geschichte des UNHCR«. Die Flüchtlinge seien nicht in großen Lagern untergebracht, sondern von Gemeinden in Nachbarländern aufgenommen worden. Daher sei die riesige Fluchtbewegung nahezu unbemerkt geblieben.

Guterres lobte besonders Syrien und Jordanien. Beide Staaten hätten weitgehend aus eigenen Mitteln Flüchtlinge beherbergt. Die zweifellos »beste Lösung für die Mehrheit der irakischen Flüchtlinge wäre ihre freiwillige Rückkehr in Sicherheit und Würde – sobald es die Lage erlaubt«, sagte Guterres auf einer Pressekonferenz.

Der »stille Exodus« aus Irak begann mit dem Anschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad im August 2003. Seitdem haben im Zweistromland gezielte und willkürliche Gewalttaten durch verschiedene bewaffnete Akteure ebenso zugenommen wie Kriminalität, Entführungen und Vertreibungen. Professoren, Ärzte, Geschäftsleute, Journalisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Politiker flohen als erste, Appelle und Berichte über das intellektuelle Ausbluten des Landes verhallten weitgehend ungehört.

Offiziell spricht der UNHCR von 2 Millionen Irakern, die das Land verlassen haben, 1,9 Millionen gelten als Inlandsvertriebene. Diejenigen, die kein Geld für eine Busfahrkarte nach Syrien haben oder zu alt sind, um ihre Heimat zu verlassen, versuchen der Gewalt durch Flucht in ein anderes Stadtviertel von Bagdad, zu Verwandten aufs Land, in eines der neuen Flüchtlingslager oder in eine andere Provinz zu entkommen. Nach UN-Angaben flohen 150 000 nach Basra, 750 000 in die kurdischen Provinzen Nordiraks. Hunderte vertriebene Palästinenser vegetieren in Lagern in der Wüste, weil keines der Nachbarländer bereit ist, die Palästinenser einreisen zu lassen.

Nach Agenturangaben waren 450 Vertreter von 60 Staaten, staatlichen Hilfsagenturen und regierungsunabhängigen Organisationen dem Aufruf zur Genfer Konferenz gefolgt. Auch Iraks Außenminister Hoschiar Sebari war anwesend. »Wir werden diese Leute nicht im Stich lassen«, sagte Sebari und kündigte an, seine Regierung werde 25 Millionen US-Dollar (18,5 Millionen Euro) zur Verfügung stellen. Mit dem Geld sollen in den Aufnahmeländern Anlaufstellen eingerichtet, medizinische Versorgung und Ausbildungsprojekte gesichert werden. Bagdad werde eng mit dem UNHCR zusammenarbeiten, um besonders den irakischen Flüchtlingen in Syrien und Jordanien zu helfen, versprach der Minister.

Die Internationale Föderation vom Roten Kreuz und Roten Halbmond forderte 18,2 Millionen Schweizer Franken (11,1 Millionen Euro), um rund 100 000 irakischen Flüchtlingsfamilien in Jordanien und Syrien helfen zu können.


Einer Umfrage vom März zufolge würde jeder dritte Iraker sein Land am liebsten verlassen. Die meisten Flüchtlinge (geschätzte Zahlen) leben in:
  • Syrien 1,2 Millionen
  • Jordanien 750 000
  • Jemen 100 000
  • Türkei 100 000
  • Ägypten 80 000
  • Libanon 50 000
  • Golfstaaten 35 000


Die Bundesregierung, die auf der Konferenz in Genf durch den Staatsminister im Auswärtigen Amt Gernot Erler vertreten war, sagte eine Hilfe von 2,2 Millionen Euro zu. Nach Angaben des Außenamtes sind jeweils 1 Million Euro für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sowie den UNHCR »für Hilfsprojekte zugunsten irakischer Flüchtlinge in Syrien und Jordanien sowie für Binnenvertriebene in Irak« gedacht. Das Deutsche Rote Kreuz erhält 205 000 Euro, um den irakischen Roten Halbmond mit Erste-Hilfe-Material für die Versorgung von Schwerstverletzten auszustatten.

Die USA, die als faktische Besatzungsmacht gemeinsam mit Großbritannien für das Wohlergehen der irakischen Bevölkerung verantwortlich sind, wollen im laufenden Jahr bis zu 25 000 irakische Flüchtlinge aufnehmen. US-amerikanische Hilfsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) hatten darauf gedrängt, dass die USA besonders den Irakern Zuflucht gewähren sollten, die wegen ihrer Arbeit für die USA-Truppen gefährdet seien. Sie hätten »einen Krieg geführt, der unmittelbar tausende Tote, Angst und Leiden verursacht hat und der zu Vertreibungen geführt hat«, sagte Bill Frelick von HRW in Genf.

Zahlen und Fakten - Die EU ist in der Pflicht

Pro Asyl und der Europäische Flüchtlingsrat haben die EU aufgefordert, »großzügig« irakische Flüchtlinge aufzunehmen und keine Flüchtlinge nach Irak abzuschieben. Die humanitäre Katastrophe im Lande sei bisher kaum wahrgenommen worden, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Die EU dürfe »nicht länger« wegschauen, sondern müsse »gemeinsam und solidarisch« helfen.

Im Jahre 2006 haben von hunderttausenden irakischen Flüchtlingen nach UN-Angaben lediglich 19 400 die Europäische Union erreicht. 9000 gingen nach Schweden, Deutschland lag hinter den Niederlanden mit 2100 Flüchtlingen an dritter Stelle. Doch die Bundesrepublik spiele eine »besonders unrühmliche Rolle beim Umgang mit Schutzsuchenden aus Irak«, beklagt Pro Asyl. Nur 189 Iraker hätten im vergangenen Jahr in Deutschland einen Schutzstatus erhalten. Im gleichen Zeitraum sei 4200 Irakern der Flüchtlingsstatus entzogen worden. Zwischen 2003 und 2006 waren insgesamt 18 000 Iraker von solchem Statusentzug betroffen. »Die europaweit einzigartige Widerrufspraxis Deutschlands muss beendet werden», forderte der stellvertretende Pro-Asyl-Vorsitzende Hubert Heinold. Die Praxis sei »völkerrechtswidrig, inhuman und kurzsichtig«.

Die EU müsse »als Akt der internationalen Solidarität« und als Ausdruck ihrer Verantwortung für den Flüchtlingsschutz »mindestens 20 000 Resettlementplätze« (Aufnahmeplätze) für irakische Flüchtlinge bereitstellen. An den europäischen Außengrenzen müsse Flüchtlingen aus Irak Schutz gewährt werden, niemand dürfe aus der EU nach Irak abgeschoben werden, auch nicht in die scheinbar sicheren autonomen kurdischen Provinzen in Nordirak.
K.L.


Betroffene fordern "Öl für Flüchtlinge"

Der Gewalt, doch nicht der Not entkommen Die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in Irak scheinen sich über die UNHCR-Konferenz in Genf zu freuen. Sie sei wichtig, um endlich einmal den Blick der Weltöffentlichkeit darauf zu lenken, was zu lange durch politisches Gerangel verdeckt worden sei, heißt es in einem Bericht des UN-Informationsnetzwerks IRIN. Farid Abdulrahman, Professor an der Bagdader Universität, sieht den Nutzen der Konferenz darin, dass sich »Geldgeber und Hilfsagenturen endlich ein Bild von der kritischen Lage in Irak verschaffen können«. Der UNHCR als Organisator müsse die Weltgemeinschaft drängen, eine Lösung für die dringenden Probleme der irakischen Vertriebenen zu finden: »Sie leiden an Hunger, Krankheiten und starken Depressionen.«

Diejenigen, die Irak verlassen haben, seien vielleicht der Gewalt entkommen, meint der Sprecher der Irakischen Hilfsorganisation, Fatah Ahmed. Doch die große Mehrheit sei noch immer arbeitslos, arm und verzweifelt. Die regierungsunabhängigen irakischen Organisationen hofften, dass die Dinge sich nach der Konferenz für sie änderten, sagte Ahmed weiter. »Doch ohne die Unterstützung der irakischen Regierung, der USA-Truppen und anderer bewaffneter Gruppen wird es mit Sicherheit keine Lösung geben.«

Flüchtlinge außerhalb Iraks wie Saifidun Allussi haben sehr konkrete Vorstellungen davon, wie ihnen geholfen werden könnte. Der 51-jährige Allussi lebt seit einigen Monaten mit seiner Frau und drei erwachsenen Kindern in Libanon. Er fordert eine »ernsthafte Lösung für Irak.« Die USAmerikaner verhielten sich, »als seien sie in Hollywood«. Die Lage der irakischen Flüchtlinge sei eine Angelegenheit, mit der sich der UN-Sicherheitsrat befassen müsse. »Früher gab es das UNOProgramm ›Öl für Nahrungsmittel‹ «, sagt Allussi. »Heute brauchen wir ein Programm ›Öl für Flüchtlinge‹«.
K.L.



* Aus: Neues Deutschland, 19. April 2007


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