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Irak leidet unter Erbe der US-Politik

Irakischer Vizepräsident weist Todesurteil zurück / Verheerende Anschläge im ganzen Land

Von Karin Leukefeld *

Der in Abwesenheit zum Tode verurteilte irakische Vizepräsident Tarik al-Haschemi hat das Urteil gegen sich zurückgewiesen. Das Urteil sei »politisch motiviert« und er lehne es »vollständig« ab, sagte der flüchtige Politiker am Montag vor der Presse in der türkischen Hauptstadt Ankara.

Bei einer Serie von mehr als 20 Anschlägen sind am Wochenende in Irak mindestens 60 Menschen getötet worden. Nach Angaben irakischer Sicherheitskreise wurden vor allem Stellungen von Armee und Polizei sowie öffentliche Plätze und Märkte angegriffen. Der schwerste Anschlag ereignete sich am Sonntag, nahe dem für schiitische Muslime heiligen Schrein des Imam Ali al-Scharki in der südirakischen Provinz Maysan. Die neue Gewaltwelle fiel zusammen mit der Entscheidung eines irakischen Gerichts, das den früheren Vizepräsidenten Tarik al-Haschemi am Sonntag zum Tode durch den Strang verurteilt hatte. Die Verhandlung hatte ganze 30 Minuten gedauert. Haschemi, der in die Türkei geflüchtet ist, wird vorgeworfen, mit seinen Leibwächtern zusammen illegale Todesschwadronen befehligt zu haben, um politische Gegner zu ermorden. Er hatte die insgesamt 150 Punkte umfassende Anklage, die erstmals im Dezember bekannt geworden war, von Anfang an als »politisch motiviert« zurückgewiesen. Dies wiederholte Haschemi am Montag vor der Presse in Ankara. Solange es keine Sicherheitsgarantie und kein faires Verfahren für ihn gebe, werde er nicht nach Irak zurückkehren.

Nach dem Rückzug der US-Truppen aus dem Irak Ende vergangenen Jahres hatte Haschemi massive Kritik an Ministerpräsident Nuri al-Maliki geäußert. Er warf diesem vor, die irakischen Sunniten zu unterdrücken und einen konfessionellen Streit im Irak zu provozieren. Haschemi ist selbst Sunnit. Maliki, der die drei wichtigsten Ministerien Inneres, Nationale Sicherheit und Verteidigung selbst kontrolliert, entwickele sich zu einem Alleinherrscher »schlimmer als Saddam Hussein«, so Haschemi. Der eigentlich politische Konflikt entwickelte sich rasch zu einem Streit zwischen den von Iran unterstützten Schiiten um Maliki) und den von Katar und Saudi-Arabien begünstigten Sunniten.

Der 1942 geborene Hashemi ist seit 2006 einer von drei Stellvertretern des Präsidenten Dschalal Talabani, einem Kurden aus Nordirak. Zunächst führte Haschemi die moderate Irakische Islamische Partei. Daraus entstand Tadjdid (Erneuerung), eine Partei, die mit der säkularen Liste Al Irakiya zu den Wahlen 2010 im Bündnis antrat. Das Bündnis erhielt zwar die meisten Stimmen, doch gelang es Al Irakiya nicht, eine Regierung zu bilden.

Als scharfe Kritiker der neuen Maliki-Regierung ging Al Irakiya in die Opposition. Nach Bekanntwerden der Anklage floh Haschemi zunächst nach Erbil in der kurdischen Autonomieregion in Nordirak und folgte dann Einladungen nach Katar und Saudi-Arabien. Seit April hält er sich »aus gesundheitlichen Gründen« in der Türkei auf. Auf irakische Ersuchen hatte Interpol Haschemi im Mai zur Fahndung ausgeschrieben.

Politische Beobachter sehen einen Zusammenhang zwischen der anhaltenden Gewalt in Irak und dem Verfahren gegen Haschemi. Zu Al Qaida gehörige Gruppen wie »Islamischer Staat Irak« seien für die meisten Anschläge verantwortlich, meint der US-amerikanische Historiker Juan Cole. Die Angriffe seien (sunnitisch) »konfessionell« motiviert. Gleichzeitig sei klar, das Maliki auf die sunnitischen Iraker zugehen müsse, wenn er weitere Morde an einfachen Sicherheitskräften vermeiden wolle. Die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten bezeichnet Cole als Erbe der US-Politik in Irak.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 11. September 2012


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