Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hinterlassenschaften und Vorkehrungen

Bremer entlässt den Irak in die "Souveränität" - und hat vorgesorgt. Zur Rolle der Gewerkschaften

Am 28. Juni 2004, zwei Tage vor dem ursprünglich vorgesehenen Termin, feierten die irakische Interimsregierung, die US-Administration und ihr verlängerter Arm im Irak, "Zivilverwalter" Paul Bremer und die in Istanbul versammelten Regierungschefs der NATO-Staaten das Ende der Besatzung und den Beginn der "Souveränität" des neuen Irak. In Bagdad und in anderen Städten des von Diktatur, Embargo und Krieg geschundenen Landes war von Aufbruchstimmung nicht viel zu sehen. Die meisten Menschen werden wohl an ein altes irakisches Sprichwort gedacht haben: "derselbe Esel, ein anderer Sattel". Ändern wird sich zunächst nicht viel, weder an den Entbehrungen und Sorgen des Alltags noch an den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den zu "Multinationalen Truppen" mutierten Besatzungstruppen und den pauschal zu "Terroristen" gestempelten Widerstandskämpfern.

Weniger bekannt sind die Vorkehrungen, die die Besatzungsmacht USA und ihr Statthalter Bremer getroffen haben, um auch nach der formellen Machtübertragung das Sagen zu haben. Von solchen Vorkehrungen handelt der Beitrag von Andreas Zumach, den wir im Folgenden dokumentieren.

Ebenso wenig wissen wir über die katastrophale Arbeitsmarktsituation und die schwierigen sozialen Beziehungen im Irak. Der zweite Beitrag, den wir auf dieser Seite auszugsweise dokumentieren, handelt von der aus politischen Gründen stark eingeschränkten Rolle der Gewerkschaften und den komplizierten Bedingungen, unter denen sie agieren müssen. Giuliana Sgrena (zur Zeit Bagdad) ist die Autorin.

Beide Artikel wurden zuerst in der kritischen Schweizer Wochenzeitung WoZ veröffentlicht.


Mister Bremers sehr langer Arm

Von Andreas Zumach

Auch nach dem Ende der Besatzungsverwaltung im Irak und der Machtübergabe an eine «souveräne» Regierung in Bagdad werden die USA weiterhin erheblichen Einfluss im Irak ausüben. Und dies nicht nur durch die Anwesenheit von derzeit rund 140000 SoldatInnen, die durch die jüngste Irak-Resolution des Uno-Sicherheitsrates zumindest formell eine völkerrechtliche Legitimation erhalten haben. Sondern auch durch 98 «rechtsverbindliche Dekrete», die der bisherige Besatzungschef Paul Bremer in den letzten Wochen vor seiner Abreise aus Bagdad erlassen hat. Die Mehrheit dieser Dekrete soll für fünf Jahre gelten - und damit nicht nur die jetzt amtierende irakische Interimsregierung binden, sondern auch die Regierung, die Ende 2005 aus freien Wahlen hervorgehen soll. Für derartige Dekrete der bisherigen Besatzungsmacht gibt es keine völkerrechtliche Legitimation.

Bereits Anfang Juni - als im Sicherheitsrat noch über die Resolution verhandelt wurde - ernannte Bremer per Dekret für jedes der 25 Ministerien der irakischen Interimsregierung einen «Generalinspekteur». Diese Inspekteure sollen bis Mitte 2009 im Amt bleiben. Das Dekret, das zu den grössten Konflikten führen dürfte, ist die Wahlgesetzgebung, die Bremer am 15.Juni unterzeichnete. Danach sind Parteien, die in Verbindung zu einer Miliz stehen oder standen, von Wahlen ausgeschlossen. Eine siebenköpfige Wahlkommission, deren Mitglieder von Bremer ernannt wurden, soll einen Kodex für KandidatInnen erlassen, der «Hassreden, Einschüchterung sowie die Anwendung oder Unterstützung terroristischer Massnahmen» verbietet. Die Kommission kann Parteien oder KandidatInnen, die nach ihrer Einschätzung gegen diese Regeln verstossen, von Wahlen ausschliessen. Diese Bestimmungen könnten zum Beispiel zum Ausschluss des schiitischen Geistlichen Muktada as-Sadr führen, der nach monatelangen militärischen Auseinandersetzungen mit den US-geführten Besatzungstruppen seine Absicht zur Teilnahme am politischen Prozess und zur Kandidatur bei Wahlen erklärt hatte. Aber auch auf die beiden führenden kurdischen Parteien im Norden Iraks, die ebenfalls bewaffnete Verbände unterhalten, könnten diese Bestimmungen eines Tages Anwendung finden.

Ein weiteres Dekret Bremers verbietet Mitgliedern der ehemaligen irakischen Armee für achtzehn Monate nach ihrem Dienstende die Übernahme öffentlicher Ämter. Ehemalige Soldaten oder auch ZivilistInnen, die während der vierzehn Monate währenden Besatzungszeit Granaten und andere grosskalibrige Waffen verkauft haben, sollen eine Mindeststrafe von dreissig Jahren Gefängnis erhalten. Diese Bestimmungen könnten mit der Amnestie in Konflikt geraten, die der neue Regierungschef Ijad Allawi am Wochenende für die UnterstützerInnen von «Widerstandsaktionen» gegen die Besatzung angekündigt hatte.

In Dekreten zu Wirtschafts-, Finanz- und Steuerfragen setzte Bremer den künftigen irakischen Steuersatz auf maximal fünfzehn Prozent fest und erliess Regeln für die Privatisierung der irakischen Wirtschaft. Weitere Dekrete verbieten Arbeit für Kinder unter fünfzehn Jahren und «den Gebrauch der Autohupe ausser in Notfallsituationen».

Sein letztes Dekret erliess Bremer am Wochende: Es verlängert die im Mai 2003 erlassene «Verfügung 17», mit der Angehörige dieser Koaliton - SoldatInnen wie ZivilistInnen - vor der Festnahme oder Inhaftierung durch irakische Sicherheitskräfte geschützt wer-den und ihnen vor der irakischen Justiz Immunität gewährt wird. Zudem sollen auch alle nichtirakischen MitarbeiterInnen ausländischer Firmen, die im Irak tätig sind, Immunität geniessen.

Laut einem - ebenfalls von Bremer formulierten - Annex zur vorläufigen Verfassung Iraks können die 98 Dekrete nur ausser Kraft gesetzt werden, wenn Regierungschef Allawi, der Präsident und seine beiden Stellvertreter sowie eine Mehrheit der 25 MinisterInnen zustimmen.

Aus: WOZ 1. Juli 2004

Dreierlei Kollegen

Gewerkschaften im Irak

Von Giuliana Sgrena, Bagdad

Das irakische Gewerkschaftsmodell bleibt jenes von Saddams Zeiten. Während die Unternehmer frei und ohne Regeln bleiben, dürfen sich die ArbeiterInnen nicht selbständig organisieren.

«Hundert Dollar Arbeitslosenunterstützung, aber subito»: Das Transparent mit dem Slogan bedeckt die halbe Wand im zweiten Stock eines baufälligen Gebäudes an der Raschid-Strasse in Bagdad. Kasam Hadi, Generalsekretär der Union der arbeitslosen Iraker (UUI), die nach eigenen Angaben 350000 Mitglieder zählt, und Falah al-Wan, Präsident des irakischen Arbeiter- und Gewerkschaftsverbandes (FWCUI), haben hier bei der Kommunistischen Arbeiterpartei Iraks Unterschlupf gefunden.

Die Arbeitslosigkeit ist eines der schlimmsten Probleme im Irak. In einem Land ohne Statistikbüro allerdings, in welchem auch die Ergebnisse der Volkszählungen zu Saddam Husseins Zeiten angezweifelt werden, kann das Ausmass nur sehr grob geschätzt werden. Nach dem Fall des alten Regimes sind viele IrakerInnen aus dem Exil zurückgekehrt, andere haben das Land verlassen. Die heutigen Schätzungen gehen von 25 bis 26 Millionen EinwohnerInnen aus - zwölf Millionen sollen arbeitslos sein. Das bedeutet, dass 85 Prozent der aktiven Bevölkerung ohne Erwerbsarbeit sind. «Dies sind auch die Zahlen, von der die Internationale Organisation der Arbeit (ILO) ausgeht», sagt Kasam Hadi, «aber die ILO vergisst dabei die vielen Hausfrauen, die arbeiten wollen, aber keine Stelle finden.» Schon vor dem Krieg überlebten sechzig Prozent der Bevölkerung nur dank den «Nahrungsmittel für Öl»-Rationen. Heute seien noch viel mehr Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, sagt er. Das sind Auswirkungen der Politik des alten Regimes, der früheren Kriege, der dreizehn Jahre Embargo - aber auch des letzten Krieges, der Fabriken und Infrastrukturen zerstört habe.

Verhandlungen zwischen Arbeitssuchenden, dem Regierenden Rat und der provisorischen Behörde der Koalition sind ergebnislos geblieben. «Nach einem Treffen mit dem Sozialminister und einem Verantwortlichen des Arbeitsministeriums haben wir uns zurückgezogen. Sie arbeiteten nicht seriös. Sie hatten keinerlei Strategie, um das Problem anzugehen.»

Der Vertreter der Arbeitslosen macht sich keine Illusionen über die Verhältnisse nach der Machtübergabe. (...) «Sie werden nur die formellen und nicht die sozialen Strukturen verändern», sagt auch Falah al-Wan, Vertreter der illegalen Gewerkschaft FWCUI. Der Regierungsrat hat am 28. Januar dieses Jahres nur eine einzige Gewerkschaft anerkannt - den Irakischen Verband der Arbeitergewerkschaften (IFTU). (...)

«Die Arbeiter ziehen, wie zu Saddams Zeiten, die anerkannte Gewerkschaft vor, weil sie glauben, so am meisten Vorteile zu erhalten», sagt Falah al-Wan. Die FWCIU habe deshalb Mühe, ihre Mitglieder zu halten. Und tatsächlich sind die Mitgliederzahlen der beiden Gewerkschaften nicht vergleichbar. Der legale IFTU soll etwa 800000 bis eine Million Mitglieder haben (ungefähr achtzig Prozent der Arbeitenden), die FWCUI zählt rund 16000 Mitglieder.

Die stärkste der Parteien

Die Wahlen für die Führung der einzelnen Gewerkschaften des IFTU sind noch im Gange, und erst zuletzt wird die Verbandsdirektion - die früher einfach bestimmt wurde - gewählt. Das beweise, dass die Entscheidung der Regierung richtig sei, glauben die Vertreter des IFTU. «Die Arbeiter legitimieren uns», sagt Hadi Ali, erster Vizepräsident des Verbandes, der sein Büro in den Räumen der anderen Kommunistischen Partei Iraks hat. «Auch die europäischen Gewerkschaften sind überzeugt, dass unser Verband die Arbeiter am besten vertritt. Deshalb hat uns der Regierungsrat anerkannt», sagt er. Aber der IFTU wolle gar kein Monopol, sein Verband wolle nicht der Einzige sein, der die Rechte der Arbeitnehmenden vertritt.

Und noch eine gewerkschaftliche Struktur will die Rechte der irakischen ArbeiterInnen vertreten: Der Generalverband der Gewerkschaften des früheren Regimes nämlich - eine Organisation, die eigentlich mit Saddams Regime kollabierte. Sie wird vom Internationalen Verband der arabischen Arbeiter mit Sitz in Damaskus aber weiterhin anerkannt. Der Präsident des Generalverbandes, Dschamil Salman al-Dschuburi, und weitere Delegierte des Generalverbandes befinden sich in der syrischen Hauptstadt.

Der IFTU will jetzt, nach der Machtübergabe, seine Forderungen mit der irakischen Regierung besprechen. Die Besatzungsmächte hätten versagt: «Der amerikanische Verwalter Bremer hat uns 300000 Arbeitsplätze versprochen und dann nichts getan», sagt Hadi Ali. Der Gewerkschaftsverband IFTU möchte auch mit drei bis fünf Mitgliedern in den Nationalrat (eine Art provisorisches Parlament) einziehen.

Gemeinsame Forderungen

(...) «In keiner einzigen Fabrik wird voll produziert. Selbst in Bagdad beträgt die Quote höchstens dreissig bis vierzig Prozent», sagt Hadi Ali. Daran werde auch das Privatisierungsprojekt des Regierungsrates - das im vergangenen September lanciert, aber noch nicht gestartet wurde - nicht viel ändern. Auch im Kampf gegen die Privatisierung finden sich die Gewerkschaften. «Das würde die Zahl der Arbeitsplätze noch mehr reduzieren. Wir haben ja im Westen gesehen, was danach passiert ist», sagt Falah al-Wan.

Dass die Fabriken nicht ausgelastet sind, liege auch an der veralteten Technologie und an der durch Krieg und Embargo zerstörten Infrastruktur. Und es fehle an Investitionen, weil die Sicherheitslage ein zu grosses Risiko darstelle. Probleme, die nur gelöst werden können, wenn sie den IrakerInnen überlassen werden, ist der IFTU-Vize überzeugt. Der grösste Fehler des US-amerikanischen Verwalters Bremer sei gewesen, dass er den IrakerInnen nicht erlaubt habe, selber für Sicherheit zu sorgen. Mit welchen Mitteln allerdings hätten sie das tun sollen? Mit dem vom Justizministerium angekündigten Kriegsrecht? Falah al-Wan widerspricht entschieden: «Das Kriegsrecht würde nur das Versagen der Besatzungsmächte und der irakischen Regierung verdeutlichen. Es würde zeigen, dass sie die Situation nicht im Griff haben.» Und Kasam Hadi fügt hinzu: «Um die Gewalt zu stoppen, muss die Besatzung zu Ende sein. Das Kriegsrecht würde die Rechte der gesamten Gesellschaft, auch der ArbeiterInnen, einschränken.»

Hadi Salah, Generalsekretär des IFTU, sieht dies anders. «Die Terroristen profitieren von der allgemeinen Verwirrung und greifen überall an.» Das Wort Kriegsrecht sei eine Übertreibung für die geplanten Massnahmen: «Es würde sich nur um ein Notrecht handeln, das in einigen Gebieten angewendet wird.»

Die Autorin ist Korrespondentin von «il manifesto»

Aus: WOZ, 1. Juli 2004



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