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"Es gibt es keinen Grund, eine Politik zu unterstützen, die zum Scheitern verurteilt ist"
"There is no case for supporting policies which are doomed to failure"

52 britische Botschafter und andere hohe Diplomaten kritisieren Blairs Nahost- und Irakpolitik (Brief im Wortlaut)
52 former British diplomates wrote a letter to the Prime Minister

Am 26. April 2004 veröffentlichten 52 britische ehemalige Diplomaten (Botschafter, "hohe Kommissare", Gouverneure), von denen einige auch Erfahrungen aus ihrer langjährigen Arbeit im Nahen Osten haben, einen Brief an Premierminister Tony Blair, in dem sie seine Irak- und Nahostpolitik kritisieren.
Die wichtigsten Punkte des Briefes sind folgende (deutsche Zusammenfassung: Pst):


Im ersten Absatz bringen die Unterzeichner ihre "tiefe Besorgnis" über die Politik zum Ausdruck, die Blair bezüglich des israelisch-palästinensischen Konflikts und des Irak verfolgt hat. Nach dem letzten Treffen zwischen Blair und Bush in Washington sei es an der Zeit, ihre Sorgen publik zu machen - in der Hoffnung, dass sie auch Eingang ins Parlament fänden und zu einer grundlegenden Neubewertung führen mögen.

Mit der Vorlage der "road map" keimten Hoffnungen auf, dass die großen Mächte zu einer entschlossenen Initiative zur Lösung eines Problems bereit seien, das Jahrzehnte lang die Beziehungen zwischen dem West und der islamischen und arabischen Welt vergiftet hatte. Die rechtlichen und politischen Prinzipien, auf denen eine solche Vereinbarung beruhen sollte, wurden sorgfältig erarbeitet: Präsident Clinton bemühte sich darum während seiner Präsidentschaft. Die Bestandteile eines Vertrags waren verständlich und es wurden sogar informelle Vereinbarungen in Teilbereichen erzielt. Doch die Hoffnungen erwiesen sich als unbegründet. Es wurde nichts wirklich Effektives unternommen, um die Verhandlungen voran zu bringen und um die Gewalt einzudämmen. Großbritannien und die anderen Unterstützer der road map warteten nur auf die Führung der USA; aber sie arteten vergeblich.

Es sollte noch schlimmer werden. Nach all den vergeudeten Monaten wurde die internationale Gemeinschaft mit der Ankündigung einer neuen Politik von Sharon und Bush konfrontiert, die einseitig und rechtswidrig ist und noch mehr israelisches und palästinensisches Blut kosten wird. Unsere Bestürzung über diesen Schritt zurück wird noch dadurch gesteigert, dass Sie selbst ihn gebilligt zu haben scheinen, unter Aufgabe jener Prinzipien, von denen sich fast vier Jahrzehnte lang die internationalen Anstrengungen leiten ließen, den Frieden im Heiligen Land wiederherzustellen.

Die Aufgabe der Prinzipien erfolgt zu einer Zeit, da wir - zu Recht oder zu Unrecht - überall in der islamischen und arabischen Welt als Partner in einer rechtswidrigen und brutalen Besatzung in Irak dargestellt werden.

Die Art der Kriegsführung im Irak hat deutlich gemacht, dass es keinen effektiven Plan für die Zeit nach Saddam gegeben hat. All diejenigen, die über Erfahrungen in der Region verfügen, haben vorhergesagt, dass die Besetzung des Irak durch Koalitionstruppen auf ernsthaften und hartnäckigen Widerstand stoßen würde. Genau das ist eingetreten. Den Widerstand als von Terroristen, Fanatikern und Ausländern geleitet zu beschreiben, ist weder überzeugend noch hilfreich. Die Politik muss die Natur und die Geschichte des Irak in Rechnung stellen, dem komplexesten Land in der Region. Auch wenn sich die Iraker nach einer demokratischen Gesellschaft gesehnt haben mögen, ist der Glaube naiv, dass sie nun von der Koalition geschaffen werden könnte. So sehen es praktisch alle unabhängigen Nahost-Experten, sowohl in Großbritannien als auch in den USA. Wir sind erfreut darüber, dass Sie und der US-Präsident die jüngsten Vorschläge von Lakhdar Brahimi begrüßt haben. Wir müssen bereit sein alles zur Verfügung zu stellen, was er zur Unterstützung des Plans benötigt, und wir müssen den Vereinten Nationen die Autorität verleihen, damit sie mit den Irakern selbst arbeiten können, einschließlich derer, die sich zur Zeit im aktiven Widerstand gegen die Besatzung befinden. So kann das Schlamassel beseitigt werden.

Die Militäraktionen der Koalitionsstreitkräfte müssen von politischen Zielen und von den Gegebenheiten des Landes leiten lassen und nicht von Anforderungen von Außen. Es re4icht auch nicht zu sagen, der Einsatz des Militärs sei eine Angelegenheit von Befehlshabern vor Ort. Schwere Waffen, ungeeignet für die vor uns liegenden Aufgaben, aufwieglerische Reden, die gegenwärtigen Konfrontationen in Nadschaf und Falludscha - all das hat die Opposition eher aufgebaut denn isoliert. Wahrscheinlich sind insgesamt 10 bis 15.000 Iraker durch die Koalitionstruppen ums Leben gekommen (es ist eine Schande, dass die Koalitionstruppen darüber anscheinend keine Schätzungen haben), und allein im letzten Monat sind in Falludscha mehrere hundert Menschen getötet worden darunter viele Zivilisten, Frauen und Kinder. Phrasen wie "Wir trauern um jedes verlorene Leben. Wir ehren sie und ihre Familien für ihre Tapferkeit und ihr Opfer", offenbar nur jenen zugedacht, die auf der Seite der Koalition starben, sind nicht geeignet, die Leidenschaften zu dämpfen, die zu den Tötungen aufstachelten.

Wir sind wie Sie der Ansicht, dass die britische Regierung ein Interesse hat, so eng wie möglich mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten, und zwar sowohl in Bezug auf die hier genannten Themen, als auch bei der Ausübung von Einfluss als loyaler Verbündeter. Wir glauben, dass der Bedarf an Einfluss heute eine ganz dringende Sache ist. Wenn das nicht akzeptiert wird oder unwillkommen ist, gibt es keinen Grund, eine Politik zu unterstützen, die zum Scheitern verurteilt ist.

Hochachtungsvoll

Sir Graham Boyce (Botschafter in Ägypten 1999-2001);
Sir Terence Clark (Botschafter in Irak 1985-89);
Francis Cornish (Botschafter in Israel 1998-2001);
Sir James Craig (Botschafter in Saudi-Arabien 1979-84);
Ivor Lucas (Botschafter in Syrien 1982-84);
Richard Muir (Botschafter in Kuwait 1999-2002);
Sir Crispin Tickell (Britischer ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen UN 1987-90);
Sir Harold (Hooky) Walker (Botschafter in Irak 1990-91),
and 44 weitere Unterzeichner*

* Die vollständige Namensliste befindet sich unter dem englischen Text weiter unten auf dieser Seite.

Dear Prime Minister,

We the undersigned former British ambassadors, high commissioners, governors and senior international officials, including some who have long experience of the Middle East and others whose experience is elsewhere, have watched with deepening concern the policies which you have followed on the Arab-Israel problem and Iraq, in close cooperation with the United States. Following the press conference in Washington at which you and President Bush restated these policies, we feel the time has come to make our anxieties public, in the hope that they will be addressed in parliament and will lead to a fundamental reassessment.

The decision by the US, the EU, Russia and the UN to launch a "road map" for the settlement of the Israel/Palestine conflict raised hopes that the major powers would at last make a determined and collective effort to resolve a problem which, more than any other, has for decades poisoned relations between the west and the Islamic and Arab worlds. The legal and political principles on which such a settlement would be based were well established: President Clinton had grappled with the problem during his presidency; the ingredients needed for a settlement were well understood and informal agreements on several of them had already been achieved. But the hopes were ill-founded. Nothing effective has been done either to move the negotiations forward or to curb the violence. Britain and the other sponsors of the road map merely waited on American leadership, but waited in vain.

Worse was to come. After all those wasted months, the international community has now been confronted with the announcement by Ariel Sharon and President Bush of new policies which are one-sided and illegal and which will cost yet more Israeli and Palestinian blood. Our dismay at this backward step is heightened by the fact that you yourself seem to have endorsed it, abandoning the principles which for nearly four decades have guided international efforts to restore peace in the Holy Land and which have been the basis for such successes as those efforts have produced.

This abandonment of principle comes at a time when rightly or wrongly we are portrayed throughout the Arab and Muslim world as partners in an illegal and brutal occupation in Iraq.

The conduct of the war in Iraq has made it clear that there was no effective plan for the post-Saddam settlement. All those with experience of the area predicted that the occupation of Iraq by the coalition forces would meet serious and stubborn resistance, as has proved to be the case. To describe the resistance as led by terrorists, fanatics and foreigners is neither convincing nor helpful. Policy must take account of the nature and history of Iraq, the most complex country in the region. However much Iraqis may yearn for a democratic society, the belief that one could now be created by the coalition is naive. This is the view of virtually all independent specialists on the region, both in Britain and in America. We are glad to note that you and the president have welcomed the proposals outlined by Lakhdar Brahimi. We must be ready to provide what support he requests, and to give authority to the UN to work with the Iraqis themselves, including those who are now actively resisting the occupation, to clear up the mess.

The military actions of the coalition forces must be guided by political objectives and by the requirements of the Iraq theatre itself, not by criteria remote from them. It is not good enough to say that the use of force is a matter for local commanders. Heavy weapons unsuited to the task in hand, inflammatory language, the current confrontations in Najaf and Falluja, all these have built up rather than isolated the opposition. The Iraqis killed by coalition forces probably total 10-15,000 (it is a disgrace that the coalition forces themselves appear to have no estimate), and the number killed in the last month in Falluja alone is apparently several hundred including many civilian men, women and children. Phrases such as "We mourn each loss of life. We salute them, and their families for their bravery and their sacrifice," apparently referring only to those who have died on the coalition side, are not well judged to moderate the passions these killings arouse.

We share your view that the British government has an interest in working as closely as possible with the US on both these related issues, and in exerting real influence as a loyal ally. We believe that the need for such influence is now a matter of the highest urgency. If that is unacceptable or unwelcome there is no case for supporting policies which are doomed to failure.

Yours faithfully,

Sir Graham Boyce (ambassador to Egypt 1999-2001);
Sir Terence Clark (ambassador to Iraq 1985-89);
Francis Cornish (ambassador to Israel 1998-2001);
Sir James Craig (ambassador to Saudi Arabia 1979-84);
Ivor Lucas (ambassador to Syria 1982-84);
Richard Muir (ambassador to Kuwait 1999-2002);
Sir Crispin Tickell (British permanent representative to the UN 1987-90);
Sir Harold (Hooky) Walker (ambassador to Iraq 1990-91),
and 44 others*

* Full list of signatories: Brian Barder; Paul Bergne; John Birch; David Blatherwick; Graham Boyce; Julian Bullard; Juliet Campbell; Bryan Cartledge; Terence Clark; David Colvin; Francis Cornish; James Craig; Brian Crowe; Basil Eastwood; Stephen Egerton; William Fullerton; Dick Fyjis-Walker; Marrack Goulding; John Graham; Andrew Green; Vic Henderson; Peter Hinchcliffe; Brian Hitch; Archie Lamb; David Logan; Christopher Long; Ivor Lucas; Ian McCluney; Maureen MacGlashan; Philip McLean; Christopher MacRae; Oliver Miles; Martin Morland; Keith Morris; Richard Muir; Alan Munro; Stephen Nash; Robin O'Neill; Andrew Palmer; Bill Quantrill; David Ratford; Tom Richardson; Andrew Stuart; David Tatham; Crispin Tickell; Derek Tonkin; Charles Treadwell; Hugh Tunnell; Jeremy Varcoe; Hooky Walker; Michael Weir; Alan White.

Guardian (UK) April 27, 2004
http://www.guardian.co.uk/comment/story/0,3604,1204085,00.html



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