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Bushs neue Strategie für Irak

Negatives Echo in Nahost

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Erwartungsgemäß stößt die neue Irak-Strategie von USA-Präsident George W. Bush in der arabischen Welt auf deutliche Ablehnung. Lediglich die Bagdader Regierung reagierte mit teilweiser Zustimmung. Regierungssprecher Ali al-Dabbagh sagte, der Plan beinhalte »Positives und kann weiterentwickelt werden«. Doch betonte er auch: »Wir wissen, was angesichts der Lage angemessen ist, und darüber werden wir entscheiden und sonst niemand.« Allerdings dürften die Tage von Ministerpräsident Nuri al-Maliki gezählt sein, sollten mit den zusätzlichen Truppen nicht endlich Ordnung und Sicherheit hergestellt werden.

Maliki kündigte im Gegenzug eine massive Sicherheitsoperation an, um vor allem Bagdad von »kriminellen und terroristischen Elementen zu säubern«. Den Start machte offenbar ein irakisch-amerikanischer Angriff in der Haifa-Straße am Dienstag. Nach Bagdader Angaben wurden dabei über 130 »Terroristen« getötet. Obwohl es sich um ein dicht besiedeltes Wohngebiet im Zentrum handelt, wurde die Militäroperation von USA-Kampfjets und Hubschraubern unterstützt.

Der saudische Kronprinz Sultan bin Abdul-Aziz forderte Washington auf, die Irakstrategie zu überdenken. »Was haben diese Truppen erreicht, seit sie einmarschiert sind? Irgendetwas Positives?«, fragte der Prinz rhetorisch in einem Interview mit der Tageszeitung »Aschark al-Awsat«. Außerdem sollten »gewisse Nachbarstaaten aufhören, die religiösen Gruppen zu unterstützen«, fügte er offenbar mit Blick auf Iran hinzu. Teheran wird vorgehalten, schiitische Milizen in Irak zu unterstützen.

Die syrische Regierung hat sich bisher offiziell nicht zu Bushs Plänen geäußert. Man übt politische Zurückhaltung gegenüber Irak, zumal die diplomatischen Beziehungen erst kürzlich wieder aufgenommen wurden. Der irakische Präsident Dschalal Talabani wird Ende der Woche zu einem Staatsbesuch in Damaskus erwartet. In der englischsprachigen offiziellen Tageszeitung »Syria Times« wird allerdings an prominenter Stelle die USA-Entscheidung kritisiert. »Angesichts der sich verschlechternden Sicherheitslage in Irak wird der Plan, die Militärpräsenz weiter zu erhöhen, nur noch mehr Tote und Zerstörung zur Folge haben«, heißt es in einer Kolumne. »Nicht nur für die Iraker, sondern auch für das amerikanische Volk.«

Auf die Frage, was er über eine Truppenaufstockung in Irak denke, antwortet Faruk, ein junger Buchhändler in Damaskus, nur zögernd: »Was soll ich sagen, wir sehen doch täglich in den Nachrichten, was in Irak geschieht. Es ist sehr, sehr traurig.« Ein älterer Kunde, der dem Gespräch zugehört hat, reagiert emotional: »Sie kommen doch aus Deutschland, da weiß man doch, was so ein Krieg bedeutet! Sie stellen Ihre Frage den Falschen hier, wir einfachen Leute können nichts tun, gar nichts.« Dann richtet er den Zeigefinger nach oben und fügt hinzu: »Allah lenkt unsere Geschicke, nur ihm können wir vertrauen.«

* Aus: Neues Deutschland, 12. Januar 2007

Dramatische Zuspitzung im Zweistromland

ND-Gespräch mit dem Europaabgeordneten André Brie über seine jüngste Irak-Reise **

ND: Sie waren in den vergangenen Jahren wiederholt in Irak. Wie hat sich die Lage dort entwickelt?

Brie: Ich hätte mir vor einem Jahr nicht vorstellen können, dass ich heute von einer weiteren dramatischen Zuspitzung sprechen muss, so schlimm wie schon damals die Zustände waren. Doch inzwischen vergeht keine Woche ohne grausamste Massaker, mindestens 150 Menschen werden täglich ermordet. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass seit 2003 etwa 600 000 Menschen umgekommen seien, so viele wie im iranisch-irakischen Krieg während des doppelten Zeitraums. Vor allem außerhalb von Kurdistan hat sich die soziale und wirtschaftliche Situation für die meisten Menschen erheblich verschlechtert. In großen Teilen des Landes gibt es keinen Zugang zu Medikamenten, selbst in Notfällen ist ärztliche Behandlung nicht möglich. Viele Gebiete sind durch Milizen von der offiziellen Nahrungsmittelversorgung abgeschnitten, die Arbeitslosigkeit ist katastrophal, die Energieabschaltungen sind unverändert häufig.

Die Regierung in Bagdad hat sich als unfähig erwiesen. Trotzdem scheint US-Präsident Bush große Hoffnung auf sie zu setzen.

Irak hat faktisch keine Regierung oder höchstens eine Milizenregierung. Die Parlamentarier sitzen zum Teil in Amman, in Doha, in Dubai oder sind allenfalls in der »grünen Zone« von Bagdad aktiv. Diese Regierung von Nuri al-Maliki ist völlig diskreditiert. Wir haben im ganzen Land keinen Menschen gesprochen, der noch einen Pfifferling auf sie gibt. Die Art und Weise, wie die Hinrichtung Saddam Husseins in die Hände der schiitischen Sadr-Milizen gelegt wurde, hat den Zorn noch weiter verstärkt, nicht nur bei Sunniten. Uns hat ein kurdischer Politiker erklärt: Wir wollen nicht Rache, sondern Gerechtigkeit.

Werden die nun geplanten 20 000 zusätzlichen US-Soldaten Irak friedlicher machen?

Wir erleben die Fortsetzung einer falschen Strategie mit den falschen Mitteln, bei Ignoranz der Realitäten dieses Landes. Gebraucht wird zuerst eine wirklich handlungsfähige Regierung, eine Regierung der nationalen Aussöhnung. Notwendig ist die Entwaffnung der Milizen. Das ist ein Schlüsselproblem, denn sie sind der eigentliche Ausgangspunkt für Gewalt, auch der sozialen und wirtschaftlichen Zerstörung. Sie wurden maßgeblich von fundamentalistischen Kräften aufgebaut – und von den USA lizenziert. Washington hat auf diese Kräfte gesetzt. Es ist also völlig verlogen, wenn Bush jetzt fordert, die Bagdader Regierung müsse die Milizen zurückdrängen. Selbst hohe US-amerikanische Offiziere, die wir getroffen haben, halten sein Konzept für falsch.

Was erwarten die Iraker bei der Suche nach Alternativen von der Europäischen Union?

Man trifft auf massive Enttäuschung über die EU, die in Irak bisher praktisch nicht präsent ist. Das ist unverantwortlich. Viele Iraker erwarten, dass die EU endlich aktiv wird und eine eigenständigere, von den USA abgehobene Politik betreibt, die den Menschen wirklich hilft. Bei unseren Gesprächen ging es deshalb auch um die Zusammenarbeit im Hochschul- und Forschungsbereich, um regionale Entwicklung und um Umweltfragen. Wir haben konkrete Vorhaben erörtert, die wir jetzt weiter verfolgen wollen.

** André Brie (56) ist seit 1999 Europaabgeordneter der Linkspartei und Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten im Straßburger Parlament. ND-Mitarbeiter Olaf Standke sprach mit ihm unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Irak, wo er sich in Bagdad, Erbil und mehreren Orten in der Provinz Diyala über die aktuelle Situation informiert hat.

Aus: Neues Deutschland, 12. Jan. 2007




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