Die Wahrheit der Blogger im Irak
Internettagebücher bieten einen hervorragenden Einblick in in den Alltag im Irak
Von Karin Leukefeld"
Mehr als 70 Journalistinnen und Journalisten sind im Irak seit Beginn des Krieges 2003 getötet worden. Berichterstattung ist dort inzwischen so gefährlich, dass die Korrespondenten großer Medien sich hinter Sandsäcken und Mauern verbergen und von einer kostspieligen Sicherheitsarmada bewachen lassen. Meldungen, dass das US-Militär eigene Berichte an die irakische Presse gibt, oder über als Journalisten getarnte Geheimdienstler, schüren berechtigtes Misstrauen gegenüber Medien und haben aus dem kriegszerrütteten Land ein Minenfeld für Reporter gemacht. Von der unabhängigen Journalistin Jill Caroll, entführt Anfang Januar 2006, fehlt noch immer jede Spur.
Internettagebücher aus dem Irak, sogenannte Weblogs, füllen nun die Lücke, die die fehlende unabhängige, professionelle Berichterstattung hinterlassen hat. Mit phantasievollen Namen ausgestattet und persönlichen Leitsprüchen versehen schreiben immer mehr Iraker ihre Alltagseindrücke auf und bieten, meist in exzellentem Englisch, einen zwar absolut subjektiven, aber dennoch hervorragenden Einblick in das Leben und Denken im heutigen Irak.
„Healing Iraq“, Irak wieder gesund machen, heißt das Weblog von Seyad, einem Zahnarzt in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Er verfasst seine „Notizen und Kommentare über Vorkommnisse im Irak nach Saddam“ fast täglich. Am Sonntag den 26. März beschreibt Seyad eine Reportage im staatlichen Fernsehsender Al Irakia. Es ging um den US-Angriff auf ein Gebetshaus (Husseiniya) von Anhängern des Predigers Muktada Sadr. 17 Wachleute seien getötet worden, hieß es in der Reportage, dann sah man Bilder aus dem verwüsteten Gebetshaus: „Einer der Toten trug einen Ausweis der Dawa Partei (Irakische schiitische Partei), ein anderer trug einen Ausweis der Islamischen Konferenz der Irakischen Stämme“, schreibt Seyad. Dann sei zu hören gewesen, wie eine Stimme im Hintergrund zum Kameramann sagte, er solle die Mörsergranaten filmen, die um die Toten herum lagen. Der Kameramann meinte, er könne doch nicht die Mörsergranaten der eigenen Leute zeigen. „Nein, das sind Mörsergranaten der Amerikaner“, erklärte die Stimme im Hintergrund, woraufhin der Kameramann sagte: „Ok, dann filme ich sie.“
Salam Adil, ein irakischer Geschäftsmann aus London, hat unter http://asterism.blogspot.com/ ein Portal für eine Fülle Blogs geschaffen, die entweder direkt aus dem Irak berichten oder von Irakern aus dem Ausland stammen. Der Standort der Blogger wird jeweils benannt. Seinen richtigen Namen will Salam Adil nicht nennen, um seine Geschäfte nicht zu gefährden. Gleichwohl ist es ihm wichtig, per Blog „zu sagen, was ich wirklich denke, ohne Angst zu haben, wer meine Gedanken liest.“ Der Mittdreißiger flüchtete in jungen Jahren mit seiner Familie aus dem Irak und lebt seitdem in London. „Nach Kommunismus und Kapitalismus gibt es Asterismus“, so sein Leitspruch. Asterismus bezeichnet die Eigenschaft verschiedener Kristalle, auffallendes Licht strahlenförmig zu reflektieren.
Mit seinem „Asterismus-Portal“ öffnet Salam Adil die Tür in eine andere Welt. Dort trifft man ‚Ali Mohamed’ und ‚Zana Amaar’, ‚Hammorabi’ und ‚Ein Mädchen aus Bagdad’, Nabil’ und ‚Ishtar’, Schalah al-Iraqi, einen begnadeten Kurzgeschichtenerzähler und je weiter man liest, desto tiefer taucht man ein in ein Labyrinth interessanter Meinungen und Analysen, Kommentare, Alltagsgeschichten und Informationen. Auch ‚Bagdad Burning’, Das brennende Bagdad, findet man über Salam Adils Portal. Es ist eines der bekanntesten Internettagebücher aus dem Irak und stammt von einer jungen Frau, die sich ‚Riverbend’ nennt. Seit August 2003 hat sie die Veränderungen im Irak beobachtet. Anonym wurden ihre Aufzeichnungen in Großbritannien als Buch veröffentlicht, das nun auf der Liste für den mit 30.000 Euro dotierten britischen Literaturpreis ‚Samuel Johnson“ von BBC 4 steht. Ihr Standpunkt ist klar: „Lasst uns über Krieg, Politik und Besatzung sprechen“, lautet ihr Motto.
Glaubwürdig und aus erster Hand berichten die irakischen Blogs, doch sollte nicht darüber hinweg gesehen werden, dass sie vor allem die Realität einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht widerspiegeln. Die Autoren und Autorinnen verfügen über Zugang zu einem Computer und Strom, ihn zu betreiben sowie über gute Kenntnisse der englischen Sprache. Iraker aus den Elendsvierteln der irakischen Hauptstadt oder aus Dörfern, die weiterhin US-Luftangriffen ausgesetzt sind, Familien, die aus ihren Häusern und Höfen in Ramadi, Al Khaim, Falludscha, Tal Afar oder Samarra vertrieben wurden, um sich vor immer neuen US-Militär-Operationen in Sicherheit zu bringen, gehören nicht zu der stetig wachsenden Bloggergemeinde Irak.
* Der Beitrag erschien - gekürzt - im "Neuen Deutschland" vom 29. März 2006
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