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Irak: Besatzungsmächte unter Druck

Steht eine islamische Republik bevor?

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview* mit dem Exiliraker Sabah Alnasseri. Alnasseri ist Politikwissenschaftler an der Universität Frankfurt a.M. und befasst sich mit der politischen Ökonomie im arabischen Raum.


Frage: Warum mißbilligt der von den Besatzungsmächten im Irak eingesetzte Regierungsrat derartig deutlich die Strafaktion der Besatzer gegen den Widerstand?

Alnasseri: Die Mitglieder fürchten, daß sie selber als politischer Arm der Besatzungsmächte diskreditiert und in diese Gemengelage hineingezogen werden. Sie vermitteln den USA damit eine Botschaft: Verhaltet euch anders, damit wir weiter zusammenarbeiten und eure Politik im Irak auch vertreten können. Die Iraker lehnen die Besatzung nach wie vor ab und sehen den Zerfall der Gesellschaft als die Folge der Besatzung an. Denn nicht der Abzug der Besatzungstruppen würde wie behauptet zu Chaos und Gewalt führen, sondern umgekehrt hat die Besatzung zwangsläufig zu einer Ausbreitung der Konflikte geführt.

F: Erstaunt es Sie, daß Sunniten und Schiiten plötzlich gemeinsam Widerstand leisten?

Nein. Die Konflikte im Irak sind nicht primär ethnisch oder religiös, sondern politisch. Daß zunehmend Geistliche als politische Akteure auftreten, spiegelt nichts anderes als die kulturelle Artikulation konservativer Interessen im Irak wider. Darin zeigt sich auch, wie der konservativ-liberale Teil des provisorischen Regierungsrates durch die Aufwertung konservativer schiitischer und sunnitischer Institutionen versucht, die von ihm gewünschte politische Kultur zu verankern.

F: Wird also eine islamische Republik nach dem Muster des Iran gewünscht?

Keinesfalls. Das Vorgehen stellt die politische Strategie konservativer Kräfte gegen die Linke und linke Vorstellungen von einer irakischen Gesellschaft dar. So ist zum Beispiel die Gewerkschaft der Arbeitslosen im Irak UUI politisch wirksam und wichtig. Weil die Mehrheit der Iraker mittelfristig arbeitslos sein wird, gewinnt die UUI an politischer Bedeutung. Also stärken die Konservativen die religiösen Ausdrucksformen von Politik und versuchen, die linken und säkularen Bewegungen als unislamisch, unschiitisch, unsunnitisch zu diskreditieren. Aber auch die Konservativen sind nicht auf einen »Gottesstaat« aus, sondern verfolgen eine neoliberale Politik. Die Mehrheit der Iraker hat mit einer islamischen Republik wenig am Hut.

F: Provozieren die USA die Islamisierung, die sie fürchten, nicht selbst?

Ja! Aufgrund falscher Beratung, falscher Informationen und ihrer eigenen Arroganz war ihre Vorstellung vom Irak grundsätzlich falsch. Sie nehmen so auch Randereignisse als grundlegende Konflikte wahr und gehen gewalttätig dagegen vor, weil sich die US-Besatzer nicht darüber klar sind, was die schiitische Mehrheit des Irak anstrebt. Insofern ist ihre falsche Wahrnehmung der irakischen Konflikte selbst ein Teil des Problems.

F: Wie bewerten Sie die Anwesenheit der GSG-9 im Irak.

Ich denke, Deutschland will schon im Vorfeld bestimmte Kenntnisse gesammelt haben, falls man sich doch entscheidet, im Irak auch militärisch mitzumischen. Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Rußland, die Türkei, Israel – alle sind dort anwesend. Übrigens sind es nicht nur staatliche Akteure, sondern auch private Sicherheitskräfte, vor allem aus den USA, die jetzt verstärkt im Irak agieren.

Die Männer, die durch Falludscha geschleift wurden, waren Angehörige einer Söldneragentur ...

Genau. Und die Iraker wissen, wer da agiert und warum. Sie versuchen sich eben zu wehren, wobei ich mit bestimmten Formen nicht einverstanden bin. Nicht etwa, weil ich den bewaffneten Widerstand an sich ablehnen würde, sondern man angesichts der Kräfteverhältnisse erst eine politische, organisatorische und soziale Infrastruktur schaffen muß, damit eine Wiederaneignung des politischen Raums überhaupt gelingen kann.

F: Wie stehen Sie zu der Kampagne »Zehn Euro für den irakischen Widerstand«?

Man muß klar offenlegen, was mit Widerstand gemeint ist, welche Kräfte mit welchen Zielen dahinterstehen. Dann kann man entscheiden, ob man das unterstützen will. Die Unterstellung, Widerstand sei per se positiv oder von progressiven Kräften getragen, finde ich sehr problematisch.

Das Interview führte Michael Liebler; es wurde veröffentlöicht in der "jungen Welt" am 16. April 2004


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