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"Dies ist unser Bagdad"

Und so leben die Bewohner, so gut sie eben können

Von Karin Leukefeld, Bagdad *

Bagdad atmet noch, doch wer einige Jahre fort war, hat Mühe, die schöne und stolze irakische Hauptstadt am Tigris wiederzuerkennen.

Morgendliche Stille liegt über dem Abu Nawas Ufer in Bagdad-Risafa. Kurz nach fünf Uhr hat der Generator mit einem Seufzer sein Dröhnen eingestellt, das seit den Abendstunden des vorherigen Tages den schweren und angespannten Schlaf der Menschen begleitete. Die Vögel jubilieren in den Hausecken und Baumwipfeln, als freuten sie sich, die eigene Stimme wieder hören zu können. Langsam erhebt sich die Sonne hinter der Kuppel der Schahid-Moschee am Ferdos-Platz, die noch immer in strahlendem Blau leuchtet, obwohl ein Teil des Mosaiks zerstört ist. Es ist Freitag, der muslimische Feiertag, vielleicht gibt es deshalb »Watani«, Strom aus dem staatlichen Netz für die Stadt, die sonst bis zu 20 Stunden am Tag ihren Strom aus Generatoren erhält.

Das Abenddunkel verschleiert Wunden

Wer nur einige Jahre nicht in Bagdad war, erkennt die Stadt nur mit Mühe wieder. Gewiss, in den Abendstunden scheint es fast wie früher, als die Bevölkerung an den Wochenenden mit ihren Autos die Parks und die kleinen Fischrestaurants am Fluss ansteuerte oder durch die hell erleuchteten Einkaufsviertel in Karada, Mansour oder Kadhimiya spazieren fuhr.

Wieder schieben sich die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange durch die Kontrollpunkte, füllen die Parkplätze neben den neu angelegten Parks und Freizeitanlagen am Ufer. Musik aus Lautsprechern weht über die Abu Nawas, im Alawiya-Club lauscht man dem Maqam-Gesang einer Altherrengruppe, Kindergeschrei und Gelächter übertönen sogar das Bellen der ungezählten streunenden Hunde, die um die Tische herumlümmeln und sich um herunterfallende Fleischbrocken balgen. Ein Feuerwerk funkelt über den Uferweiden, Lampions blinken wie bunte Sternenketten, und über dem südlichen Vorort Dora flackert die ewige Flamme der Raffinerie wie ein Wahrzeichen im Nachthimmel.

Auch am frühen Morgen lodert die Flamme im Sonnenlicht und erinnert daran, dass die Öl- und Gasressourcen Irak zu einem der reichsten Länder der Welt machen. Doch im siebten Jahr nach dem Ende der Ära Saddam Hus- sein liegt die Sieben-Millionen-Metropole Bagdad danieder wie ein Armenviertel, und die Morgensonne fördert Wunden zutage, die die Nacht wie ein dunkler Schleier verborgen hielt. Die Straßen sind bedeckt mit Staub und Plastiktüten, die wie abgetrennte Fahnen vom Wind herumgewirbelt werden. Kinder und schwarz gekleidete Frauen, viele alte Menschen heben bettelnd die Hände, Müllberge stapeln sich an den Ecken, viele Häuser ähneln eher Ruinen als Wohnstätten, dicht geflochtene Kabelbündel hängen von einer Front zur anderen.

Mauern in alle Himmelsrichtungen

Unzählbare Kontrollposten von Polizei und Armee verstören immer wieder aufs Neue, doch mehr noch verstören die endlosen Mauern der Stadt, die Wohnviertel von Wohnviertel trennen, Kirchen und Moscheen, Geschäftshäuser und Hotels verbergen und sich nur für die öffnen, die ihren Wohnort oder Arbeitsplatz nachweisen können oder -- nach vorheriger Ankündigung -- Verwandte oder Freunde besuchen wollen. Mauern um Adhamiya und Al-Schaab, um Sadr City und Amariya, um Mansour und Ghazaliya, um Kadhimiya und Saidiya, Mauern in alle Himmelsrichtungen, wohin das Auge blickt.

Die hochbegabten Künstler der Stadt haben sich der tristen Betonblöcke angenommen und ihre Heimat darauf wiedererstehen lassen, wie sie sie in Erinnerung haben: Neben Szenen aus Tausendundeiner Nacht, fliegenden Teppichen und sumerischen Helden backen Frauen Brot in großbauchigen Tonöfen, Hirten treiben ihre Herden über die Weiden, Bauern bringen Obst, Gemüse und köstliche Datteln aus Abu Ghoreib und Diyala zum Markt in die Hauptstadt.

Heute kommen die Datteln aus Saudi-Arabien, Hühnerfleisch aus Brasilien, Äpfel aus Iran, Kartoffeln aus Ägypten und Tomaten aus Syrien oder Jordanien, erzählt Rafat Elias, während er seinen Wagen langsam durch Karrada und Jadiriya steuert. Der 52-jährige Ingenieur ist arbeitslos, vor einem Jahr wurde Krebs bei ihm festgestellt. Weil es an Diagnosegeräten in Bagdad fehlt, wurde die Krankheit zu spät erkannt und ist weit fortgeschritten. Um alle drei Wochen seine Chemotherapie zu bekommen, muss Rafat früh am Morgen aufbrechen, um den weiten Weg in die Medizinische Stadt an der Brücke des 17. Juli zu erreichen. Aus Sicherheitsgründen muss er den Wagen außerhalb des weitläufigen Geländes parken und hat einen Fußweg von 20 Minuten hinter sich zu bringen, bevor er die Klinik erreicht. Rafat gibt sich gelassen: »Gott hat mich in seiner Hand«, sagt der chaldäische Christ, doch die Zukunft seiner Kinder macht ihm Sorgen. »Alles ist so teuer geworden. Wir brauchen eine Million Irakische Dinar (etwa 700 Euro) im Monat, wenn wir anständig leben wollen. Wie und wo sollen wir das Geld verdienen?«

Die Uferstraße unterhalb der Bagdad-Universität in Jadiriya ist gesperrt wie zu Zeiten Saddam Husseins. Damals wohnten hier Udai und Kusai, die Söhne Husseins, heute leben in deren Palästen die neuen Herrscher von Bagdad. Präsident Jalal Talabani, die Herren Barzani, Abdulmehdi und Hakim haben ihre Bagdader Häuser mit hohen Mauern umgeben. Die Badr-Brigaden der Partei Ammar al-Hakims, des Hohen Islamischen Rats in Irak, haben ganze Straßenzüge in Jadiriya besetzt. »Dies ist unser Bagdad«, meint Rafat und folgt geduldig den Anweisungen der Polizisten, die ihn immer wieder daran hindern, durch die kleinen Seitenstraßen zu fahren.

Vor dem populären Eisladen »Pinguin« tummeln sich die Leute, vor einer Pizzeria herrscht geschäftiges Treiben, und die Masgouf-Bräter, die den Fisch in traditioneller Weise am offenen Feuer mit Olivenöl und vielen Gewürzen braten, haben viel zu tun um die Mittagszeit. »Wir können uns nicht einfach hinlegen und sterben«, meint Rafat. »Die Menschen wollen leben, also leben wir in Bagdad so gut wir können.« Doch schon am nächsten Tag könnte eine Bombe vor dem Eisladen oder der Pizzeria explodieren. »Dann verlieren alle diese Menschen ihre Arbeit, neue Mauern werden gebaut und wieder wird eine Straße gesperrt.«

Zerborstene Holzvertäfelung am Sheraton-Hotel am Abu-Nawas-Ufer, kaputte Fenster im gegenüberliegenden Palästina-Hotel, die zertrümmerte Einkaufspassage und zerborstene Scheiben im Babylon-Hotel. Und dort, wo vor dem ebenfalls zerbombten Hamra-Hotel früher einfache Wohnhäuser und Geschäfte standen, liegt nur noch ein Trümmerhaufen. Am 25. Januar 2010 waren bei kurz aufeinander folgenden Explosionen vier große Hotels zerstört worden, 36 Menschen wurden getötet. Die Regierung von Nuri al-Maliki hatte damals die frühere Baath-Partei verantwortlich gemacht, doch vielen will das nicht einleuchten. »Wenn sie die Macht hier übernehmen wollen, warum sollten die Baathis diese Hotels zerstören«, fragt sich Rafat, während er sein Auto durch die vielen Kontrollstellen jongliert. »Hier wohnen Journalisten, Geschäftsleute, Touristen, alle sind wichtig für Irak und bringen Geld in die Stadt.« Die Explosionen seien vermutlich ein Signal an die Inhaber gewesen, deren Geschäfte zu gut gingen, glaubt er und deutet damit eher mafiöse als politische Hintergründe an.

Auch der »Leuchtturm« liegt danieder

Das Hotel »Al Fanar« liegt im Schatten des Palästina-Hotels. Vor dem Krieg 2003 arbeitete die französische Kinderrechtsorganisation Enfants du Monde in diesem »Leuchtturm für Menschenrechte«, wie einer ihrer Mitarbeiter das Hotel nannte. »Al Fanar« heißt »Der Leuchtturm«. Die Kinderorganisation versuchte damals die Folgen des unmenschlichen UN-Embargos zu mildern, mit dem die Iraker für die völkerrechtswidrige Invasion in Kuwait seit 1990 bestraft wurden. Im Herbst 2002 zogen im »Al Fanar« viele Kriegsgegner ein, im Januar 2003 auch eine Delegation aus Deutschland. Nach dem Krieg wurde der »Leuchtturm für Menschenrechte« von Sicherheitsfirmen aus den USA in Beschlag genommen, die im Frühstücksraum und in der Lobby mit ihren Waffen herumfuchtelten. Wie Irak war auch das »Al Fanar« besetzt. Und es wurde ebenfalls durch Anschläge zerstört, doch war es zu klein, um Schlagzeilen zu machen. »Wir hatten gerade renoviert und wollten wieder eröffnen«, erzählt einer der Mitarbeiter. Nun bewacht er in der Lobby die Trümmer und weiß nicht, wie es weitergehen soll.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Mai 2010


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