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Anschlagsgewitter begleitet US-Teilabzug aus Irak

Nichtregierungsorganisationen klagen vor dem Obersten Gerichtshof, um die "politische Farce" zu beenden

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Der Abzug der letzten US-Kampftruppen aus Irak wird von vielen Anschlägen begleitet. Ziel sind allerdings nicht die abziehenden Truppen oder die verbliebenen rund 50.000 US-Soldaten oder US-Einrichtungen im Irak, sondern die einfache Bevölkerung und diejenigen, die für deren Sicherheit sorgen sollen. Die Anschlagswelle der letzten Tage traf in Bagdad junge Männer, die für einen Job bei der Polizei anstanden, Polizisten, die ihren Lohn abholen wollten, Männer, Frauen und Kinder, die zur falschen Zeit am falschen Ort auf der Haifa Strasse oder in Amariya unterwegs waren. In Kerbala war das Ziel eine Polizeistation, in Kut war es die Passstelle im Einwohnermeldeamt. Bomben explodierten in Bakuba, Ramadi, Mossul und Kirkuk und auch aus der südlichen Hafenstadt Basra werden Angriffe gemeldet. Am Donnerstag schließlich wurden acht Mitglieder der Sahwa Milizen getötet, frühere sunnitische Kämpfer, die der Regierung unterstehen. Die Übergangsregierung von Nuri al-Maliki macht Al Khaida „und ihre Verbündeten von der Baath Partei“ verantwortlich, doch in der Bevölkerung wachsen Zweifel.

Neue Gefahren will Maliki nun für die Ölförderanlagen ausgemacht haben und ordnete entsprechende Sicherheitsmassnahmen an. Der staatliche Haushalt basiert zu 95 Prozent auf den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl. Pipelines und Transporte von Tanklastzügen aus den Raffinerien zu Verteilstellen waren schon in den Jahren 2006/07 nach der Invasion begehrtes Anschlagsziel. Nun plane Al Khaida die Transportwege und Pipelines anzugreifen, erklärte der Chef der irakischen Ölpolizei, Generalmajor Hamid Ibrahim. Sowohl die Ölpolizei als auch die Armee seien „jederzeit einsatzbereit“. (In einem Interview mit Reuters) räumte der General allerdings ein, dass es seinen Einsatzkräften an vielem mangele. Angefangen von 10.000 Leuten, die der ursprünglich 41.000 Mann starken Truppe fehlen, fehlen auch Flugzeuge zur Überwachung der Pipelines, Fahrzeuge, um die Truppe zu bewegen und weitere Fahrzeuge, um Wasser zu den entlegenen Stellungen zu transportieren. Zur Überwachung sei man mit deutschen und chinesischen Firmen in Verhandlung, um Überwachungskameras und andere Ausrüstung zu kaufen. Die Anschläge seien zwar zurückgegangen, meint Generalmajor Ibrahim, doch konkrete Zahlen werden nicht veröffentlicht. Fünf Anschläge habe man 2010 schon verhindern können, sagt Ibrahim stolz, dennoch hätten mehr als 300 Männer seiner Truppe seit (2005) ihr Leben für den Schutz des irakischen Öls gegeben. Die jährlichen Reparaturkosten nach Anschlägen auf Pipelines werden auf 500 Millionen US-Dollar geschätzt.

Die deutlich gestiegenen Anschläge im Irak seien auf das politische Vakuum nach den Wahlen zurückzuführen, beklagen Politiker, die allerdings selber große Verantwortung dafür tragen.

Ein halbes Jahr nach den Wahlen, bei denen die Al Irakia Liste mit Ijad Allawi mit zwei Mandaten knapp gewonnen hatte, ist der Zweitplazierte bisherige Regierungschef Nuri al-Maliki noch immer nicht bereit, in die zweite Reihe zurückzutreten und den Weg zu einer neuen Regierung freizumachen. Koalitionsverhandlungen zwischen beiden Parteien, die zusammen sogar weit mehr als das notwendige Quorum von 163 Stimmen im Parlament erreichen und damit eine stabile Regierung bilden könnten, kamen Monatelang gar nicht zustande, geraten nun immer wieder ins Stocken und wurden zeitweise wieder ganz ausgesetzt. Maliki und Allawi haben eine ähnliche Verfolgungsgeschichte durch Saddam Hussein aufzuweisen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Maliki war wegen seiner aktiven Mitgliedschaft in der schiitischen Dawa Partei zum Tode verurteilt und floh zunächst nach Iran, dann nach Syrien. Allawi wurde als ‚Abtrünniger’ der Baath Partei mit dem Tode bedroht und wurde im britischen Exil schließlich Zuträger des Geheimdienstes MI5. Beide scheinen ähnlich strukturierte Machtmenschen zu sein und nicht bereit, auf Einfluss zu verzichten. Zudem sind beide Schiiten und auch wenn der Wahlsieger Allawi eine säkular und Maliki eine religiös ausgerichtete Politik machen wollen, verstehen sich beide als irakische Nationalisten. Beide sind beispielsweise nicht gewillt, den Kurden in der Frage einer Einverleibung von Kirkuk in die autonome kurdische Region im Norden nachzugeben und meiden daher die Umsetzung von Artikel 140 der Verfassung, die ein entsprechendes Referendum vorsieht. Eine Koalitionsregierung der beiden feindlichen Brüder wäre Wunsch der USA. Verschiedenen Quellen zufolge haben sie die Schaffung eines neuen Amtes vorgeschlagen, den Präsidenten vom Nationalen Sicherheitsrat, um beiden Männern einen wichtigen Posten zu verschaffen.

Selbst innerhalb der eigenen Partei wird die Hartnäckigkeit, mit der Maliki an seinem Amt festhält mit Kopfschütteln begleitet, manche Iraker fürchten sogar den Aufstieg eines neuen Diktators im Irak. Die kurz nach den Wahlen in Teheran geschmiedete Koalition von Maliki mit der Irakischen Nationalen Allianz (INA) ist schon wieder zerbrochen. INA, ein Bündnis vorwiegend schiitischer Organisationen, gilt als Iran-nah. Die stärkste Partei in INA ist die Sadr Bewegung von Muktada Sadr, die allein 40 der 70 INA-Mandate erringen konnte. Sadr hatte Maliki 2006 noch als neuen Regierungschef unterstützt. Heute aber lehnt er das kategorisch ab, seit unter dessen Führung (2008) die Sadr Bewegung blutig niedergeschlagen wurde.

Unter Vermittlung Syriens und der Türkei hatte sich Allawi seit geraumer Zeit um einen direkten Kontakt mit Muktada Sadr bemüht, einem ersten Treffen zwischen beiden in Damaskus Ende Juli soll bald ein weiteres folgen. Auf Wunsch irakischer Parteien, wie es in arabischen Medien hieß, hätte die Türkei nun als Lösung für den innerirakischen Stillstand ein „libanesische Modell“ vorgeschlagen. Wie im Libanon, wo die Macht zwischen Christen, sunnitischen und schiitischen Muslimen aufgeteilt ist, sollen die drei wichtigsten Ämter im Irak unter den Kurden, Sunniten und Schiiten aufgeteilt werden. Tatsächlich gibt es schon länger Diskussionen darüber, das Präsidentenamt fest den Kurden zuzusprechen, den Posten des Ministerpräsidenten einem Schiiten und den des Parlamentspräsidenten einem Sunniten. Würde man Iraker befragen, würden sie diese Aufteilung vermutlich ablehnen. Damit würde eine ethnische und religiöse Spaltung der Gesellschaft zementiert, die es bisher im Zweistromland nicht gab.

Das Irakische Frauennnetzwerk und weitere Nichtregierungsorganisationen haben derweil eine Klage beim Obersten Irakischen Gerichtshof gegen den amtierenden Parlamentspräsidenten, Fuad Massum wegen „Verletzung der Verfassung“ eingereicht. Massum hatte als Alterspräsident am 14. Juni die erste Sitzung des neu gewählten Parlaments eröffnet, die eine knappe halbe Stunde dauerte und in der die Abgeordneten vereidigt worden waren. Danach hatte Massum die Sitzung aber nicht wieder geschlossen, sondern lediglich bis auf weiteres vertagt. In Ermangelung einer neuen Regierung waren Präsident, Ministerpräsident und Parlamentspräsident nicht gewählt worden. Massum habe damit die anhaltende Regierungskrise ermöglicht, begründete Bushra al-Ubaidi vom Irakischen Frauennetzwerk die Klage. Die gewählten Parteien würden in dieser Situation „absichtlich“ die Regierungsbildung hinauszögern und damit „gegen die Interessen des irakischen Volkes verstoßen“. Mit der Klage wolle man versuchen, „der politischen Farce“ ein Ende zu bereiten. Der Oberste Gerichtshof soll Massum zwingen, die Parlamentssitzung zu schließen, um den in der Verfassung vorgesehenen politischen Prozess einer Regierungsbildung in einem festen Zeitrahmen zu vollziehen. Andernfalls müsse das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angeordnet werden. Ob allerdings die Iraker an einer Neuwahl teilnehmen würden, sei fraglich, räumte die Frauenaktivistin ein. „Sie haben völlig ihr Vertrauen in die von ihnen gewählten Politiker verloren“, sagte sie in einem Interview. „Die sind nur an ihrem eigenen Wohlergehen und ihren Streitereien interessiert, nicht aber am Wohlergehen der Iraker.“

Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel "Ungewissheit im Zweistromland" im Neuen Deutschland vom 30.8.2010


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