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"Wir waren nicht dort, um zu helfen"

Die letzten Kampftruppen der US-Interventionsstreitkräfte verlassen Irak / Der US-Kriegsdienstverweigerer Chris Capps über seine Zeit in Bagdad und die US-Kriege


Chris Capps war Soldat der US Army und ist jetzt Aktivist der Antikriegsorganisation Irak-Veteranen gegen den Krieg . Nach seinem Einsatz in Irak hatte er die Armee verlassen. Heute lebt er in Hanau (Hessen) und ist in der Friedensbewegung aktiv. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Harald Neuber.



ND: Herr Capps, Sie sind im Frühjahr 2004 in den USA in den Militärdienst eingetreten. Was hat Sie damals zu diesem Schritt bewogen?

Capps: Ich habe damals noch bei meinen Eltern gewohnt, war 20 Jahre alt und hatte keine Mittel, ein College oder eine Universität zu besuchen. Stattdessen arbeitete ich als Pizza-Lieferant. Kurzum: Ich sah im Militär eine Möglichkeit, Karriere zu machen.

Der Einsatz in Irak spielte keine Rolle?

Als ich eintrat, dachte ich, dass der aktive Kriegsdienst nur einen kleinen Teil der Truppe betrifft.

Aber im November 2005 kamen Sie nach Bagdad.

Meine Aufgabe bestand zunächst darin, Kabel zu verlegen.

Das hört sich nicht nach einem harten Kampfeinsatz an.

Von Zeit zu Zeit wurde ich zu Wachdiensten eingeteilt. Dabei war ich meist zusammen mit Irakern, aber auch Beschäftigten von den Philippinen, aus Pakistan, verschiedenen Ländern Osteuropas oder Bangladesch. Sie wurden oft von Bewaffneten wie mir begleitet, weil offenbar befürchtet wurde, dass sie Bombenattentate verüben.

Nach Ihrer Dienstzeit haben Sie in Reden und Artikeln mehrfach über Korruption gesprochen. Welche Hinweise haben Sie?

Das ganze Umfeld dort stank nach Geld und Korruption. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem meine Einheit einer Vertragsfirma 20 000 Dollar zahlte, um sechs Schächte auszuheben, damit wir Glasfaserkabel verlegen konnten. Die Schächte waren statt der vorgegebenen zwei Meter nur einen Meter tief, der Beton war so porös, dass wir ihn mit den Fingernägeln abkratzen konnten, und die Kunststoffrohre zwischen den Schächten waren zerbrochen. Wir konnten den Auftrag nicht ausführen, dennoch wurde die Firma bezahlt. Ich glaube sogar, dass sie noch einmal Geld bekommen hat, um den Pfusch zu beheben. Eines der größten Probleme in Irak ist die Praxis so genannter Selbstkostenerstattungsverträge bei Vertragsfirmen. Dadurch werden die privaten US-Firmen geradezu angehalten, ihre Kosten höher anzusetzen, um einen größeren Gewinn einzufahren.

Haben Sie deswegen die Versetzung nach Afghanistan verweigert?

Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich das Geschehen in Afghanistan sehr von dem in Irak unterschied – und ich hatte wegen meiner Zeit in Irak Schuldgefühle. Ich war ursprünglich schließlich nicht nach Irak gegangen, um ein Unternehmen reich zu machen. Wir waren ganz offensichtlich nicht dort, um den Irakern zu helfen.

Welche Möglichkeiten sahen Sie für sich, damit zurechtzukommen?

Nur sehr wenige. Ich habe mich schließlich für die Desertion entschieden. Im US-Militärjargon heißt das AWOL: »Absence Without Official Leave«. Am Ende wurde ich unehrenhaft aus der Armee entlassen.

Gerade in den US-amerikanischen Medien ist zuletzt öfter von solchen AWOL-Fällen zu lesen. Ist das ein zunehmendes Problem für die Militärführung?

Als ich in der Kaserne Fort Sill wegen Desertion interniert war, bekam ich jede Woche von um die 40 ähnlichen Fällen mit. Neben Fort Sill kommen Deserteure in den USA nach Fort Knox. Rechnet man das hoch, kann man davon ausgehen, dass es zu dieser Zeit, 2007, in der Woche 80 Deserteure gab.

US-General David Petraeus, der jüngst wieder das Kommando der US-geführten Truppen in Afghanistan übernommen hat, begann seinen Führungseinsatz mit martialischer Rhetorik. Welche Perspektive sehen Sie für diesen Krieg?

Meiner Meinung nach ist General Petraeus intelligenter als andere Führungskräfte im US-Militär. Ihm ist klar, dass es in Afghanistan mehr als militärische Kraft braucht, um die Widerstandsbewegung zu bezwingen. Er ist nicht ethischer, aber er hat mehr politisches Verständnis.

Sie selbst leben inzwischen in Hanau und sind in der Veteranenorganisation Irak-Veteranen gegen den Krieg (IVAW) tätig. Wie können wir uns diese Arbeit vorstellen?

Im Moment plane ich im Rahmen der IVAW-Arbeit eine Tour durch Städte in Deutschland und Italien, in denen sich US-Militärbasen befinden. Ich versuche zudem, finanzielle Mittel zu akquirieren, um die Arbeit für die Zukunft abzusichern. Vor allem aber helfe ich Soldaten im aktiven Dienst, aus der Armee herauszukommen.

Denken Sie dennoch, dass die Bewegung der Irak- und Afghanistan-Veteranen einmal einen solchen Einfluss bekommen kann wie die Bewegung während des Vietnam-Krieges?

Es gibt einen wichtigen Unterschied: Damals gab es ohnehin eine massive kulturrevolutionäre Bewegung. Zudem wurden Tausende junge Menschen zwangsrekrutiert und damit auch gegen ihren Willen in den Krieg geschickt. Heute sind es Freiwillige. Trotzdem ist die Moral der Truppe in Afghanistan inzwischen an einem Tiefpunkt angelangt.

* Aus: Neues Deutschland, 20. August 2010


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