Nelson Mandela hat den USA vorgeworfen, den "Weltfrieden zu bedrohen" / Nelson Mandela accused the US of being "a threat to world peace"
Nun ist er "Kein freundlicher Herr mehr" / Now he is "No more Mr Nice Guy"
Am 19. September erschien in "The Guardian Europe" ein Artikel von Gary Younge unter dem Titel: "No more Mr Nice Guy". Gemeint war Nelson Mandela, der sich in den vergangenen Wochen zur Politik der USA gegenüber dem Irak geäussert hatte. Wir dokumentieren diesen Artikel in gekürzter Fassung in einer von uns besorgten deutschen Übersetzung und im englischen Original.
Von Gary Younge
[...] Man kann über Nelson Mandela sagen, was man will, aber er ist nicht nachtragend oder unbeherrscht. Nachdem er 27 Jahre auf seine Freilassung gewartet hatte, trat er aus dem Gefängnis und sprach zu einer vom Rassismus gezeichneten Nation von Frieden und Versöhnung. Als er schließlich den Übergang vom weltberühmten Gefangenen zum weltweit hoch geachteten Staatsmann geschafft hatte, lud er seine früheren Gefängniswärter zu seiner Amtseinführung ein.
Wenn er die amerikanische Außenpolitik in einer ebenso harten Sprache kritisiert, wie er sie benutzte, um die Apartheid zu verurteilen, dann weiß man, dass irgend etwas los ist. In den vergangenen Wochen hat er die amerikanische Haltung gegenüber dem Irak "zutiefst verurteilt", Vizepräsident Dick Cheney als "Dinosaurier" beschimpft und den USA vorgeworfen, den "Weltfrieden zu bedrohen".
Solch harsche Kritik aus einer anderen Ecke wäre am Weißen Haus und der Downing Street als Versuch einer Beschwichtigungspolitik, als Antiamerikanismus oder linker Extremismus abgeprallt. Aber Mandela ist nicht irgendwer. Er überragt das späte 20. Jh. als gewaltige Moralfigur und seine Stimme hat ethisches Gewicht wie keine andere. [...]
Was Mandela in unserer Welt für falsch hält, ist nicht schwer zu ergründen. Es ärgert ihn, wie die USA ihre überwältigende Militärmacht ausnutzen. [...]
"Welches Recht hat Bush, das Angebot des Irak als nicht aufrichtig zu bezeichnen ?" fragte er am Montag (= 16. September, d. Übers.). "Wir müssen das unmissverständlich verurteilen. Kein Land, wie stark es auch immer sein mag, darf sich so feindselig gegenüber einem anderen auslassen, wie es die USA getan haben. Sie halten sich für die einzige Macht der Welt. Das sind sie aber nicht, und sie verfolgen eine gefährliche Politik. Ein einziges Land will die ganze Welt tyrannisiere."
Als Befürworter der Bomben auf Afghanistan kann er nicht einfach als friedensselig abgetan werden. Aber seine Einschätzung der aktuellen Phase von Bushs ‚Krieg gegen den Terror' ist genauso vernichtend wie gleichlautende Stimmen aus der arabischen Welt. "Wenn man die Dinge genau anschaut, kommt man zu dem Schluss, dass die Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika eine Bedrohung des Weltfriedens darstellt."
[...] Mandela beschuldigt andere nicht oft oder gar leichtfertig der Diskriminierung, aber wenn er es tut, muss die Welt innehalten und zuhören. Bisher hat er es vermieden, den Westen im Umgang mit den
Entwicklungsländern des Rassismus zu beschuldigen, aber er hatte Mitgefühl für diejenigen, die das tun. "Als wir weisse Generalsekretäre hatten, blieb diese Frage der USA und Englands innerhalb der UNO. Aber seit wir schwarze Generalsekretäre wie Boutros Boutros Ghali und Kofi Annan haben, achten sie die UNO nicht mehr. Das ist nicht unbedingt meine Aufassung, aber so wird es von vielen anderen Menschen gesehen."
[...] [Nun] versucht das Weiße Haus hinter den Kulissen Mandela selbst, jetzt 84-jährig, als eine Art Dinosaurier zu zeichnen: als ehemaligen Führer eines afrikanischen Landes, verbittert durch Macht- und Kraftlosigkeit, die Ruhestand und Alter mit sich bringen. Es ist ein Angriff, der nur schwerlich haften bleibt. Mandela war nie sonderlich der Wahnvorstellung von ‚Erhabenheit' erlegen. Als er gefragt wurde, ob er im aktuellen Streitfall bereit sei zu vermitteln, antwortete er: "Wenn ich von glaubwürdigen Organisationen gefragt werde, werde ich das sehr ernsthaft in Erwägung ziehen. In einer solchen Situation ist aber kein Individuum, sondern eine Organisation wie die UNO zur Vermittlung nötig. Ein Mann, der Macht und Einfluss verloren hat, kann niemals ein geeigneter Vermittler sein."
In Wahrheit hat er seit dem Ende seiner Amtzeit vollendetes diplomatisches Geschick gezeigt. Im Jahr 1999 überzeugte er den lybischen Führer Oberst Gadhafi davon, die beiden wegen des Lockerbie-Attentats angeklagten angeblichen Spione auszuliefern. Er wurde als möglicher Vermittler im Mittleren Osten geworben - ein Vorschlag, der von der israelischen Regierung, dem Hauptwaffenlieferanten des Apartheid-Regimes, zurückgewiesen wurde. Im letzten Jahr war er persönlich daran beteiligt, südafrikanische Truppen - von der UNO sanktioniert - als vertrauensbildende Maßnahme nach Burundi zu schicken, um einen Völkermord nach ruandischem Vorbild verhindern zu helfen. [...]
Wenn mit Mandela allerdings etwas ‚nicht in Ordnung' ist, dann ist es hauptsächlich, dass er während der letzten 10 Jahre gründlich und absichtlich missverstanden wurde. Er wurde als ein freundlicher älterer Herr gezeichnet, der eigentlich nur wollte, dass Schwarze und Weiße miteinander auskommen, und nicht als entschlossener politischer Aktivist, der die fehlende Machtbalance zwischen den Rassen unter demokratischer Herrschaft wieder herzustellen wünschte. In den Jahren nach seiner Freilassung wurde sein Drängen nach Frieden und Versöhnung im Westen bewusst als Wunsch nach Vergeben und Vergessen missdeutet und nicht als die unbedingt notwendigen ersten Schritte zur Herausbildung einer Einigkeit, die wiederum eine übel zugerichtete Nation aufrichten könnte.
Zeigte er einen Mangel an persönlicher Bosheit, so wurde daraus ein Überfluss an Sanftmut und Nachgiebigkeit. Darin zeigt sich ein unausgesprochener Rassismus, der über Mandela hinaus aufzeigt, wie sich nach dem Wunsch des Westens schwarze Führer zu benehmen haben. Nach Sklaverei und Kolonialismus kommt der Wunsch, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen und einen Schleier über deren Vermächtnis zu decken. [...] Der Preis dafür, dass ein schwarzer Führer die "Halle der international berühmten Staatsmänner" aufgenommen wird, ist nicht nur die Summe seiner guten Taten, sondern entweder der Tod oder das halbe Leben hinter Gittern erforderlich.
Damit sie sich Anerkennung verdienen können, muss die Geschichte erst umgeschrieben werden, um sie ihrer Militanz zu berauben. Nehmen wir (z.B.) Martin Luther King, der nach seinem Tod vom liberalen Establishment heilig gesprochen, für seine Kritik an der Rolle der USA in Vietnam in seinen letzten Jahren aber verteufelt wurde. Einer seiner Helfer, Andrew Young, erinnerte sich: "Dieser Mann, der weltweite Achtung als Nobel-Preis-Träger genoss, wandte seine Ethik und Praxis der Gewaltfreiheit plötzlich auf das Gebiet der Außenpolitik an. ‚Nein', sagte man, ‚schwarze Gewaltlosigkeit ist in Ordnung, wenn sie mit Weißen zu tun haben, aber Weiße brauchen nicht gewaltlos agieren, wenn sie mit Braunen verkehren'."
[...]
Mandela weigerte sich, sehr zum Ärgernis der USA, Yassir Arafat, Oberst Gadhafi und Fidel Castro zu verurteilen. Er legte großen Wert auf die Loyalität, die ihm und seiner Organisation (ANC) während der Leidenszeit der Apartheid zuteil wurde, und er ließ konsequent verlauten, dass er zu denen halten werde, die zum schwarzen Südafrika gehalten hatten. Es sei falsch anzunehmen, sagte er den Amerikanern, "dass unsere Feinde Eure Feinde sind ... Wir sind eine Befreiungsbewegung und sie unterstützen unseren Kampf voll und ganz."
Dies beschert - mehr als alles andere - den USA und Großbritannien ihr größtes Problem. Als Beweis, seine Urteilskraft (habe) mittlerweile Schaden gelitten, ziehen sie Bilder, auf denen er Gadhafi umarmt, oder Niederschriften seiner Unterstützung für Castro heran. Aber was sie als seine Schwäche ansehen, ist in Wahrheit seine Stärke: Er mag vergeben haben, aber er hat nicht vergessen. Seine aktuelle Kritik an den USA reicht 20 Jahre zurück bis zur "kurzsichtigen Unterstützung des Schahs von Persien, welche direkt zur islamischen Revolution von 1979 führte".
Das Problem ist nicht, dass Mandela in seinen öffentlichen Verlautbarungen untypisch agiert, sondern dass die USA und Großbritannien in der Weltöffentlichkeit immer mehr an Kontakt verlieren.
Übersetzung: G. Otto/R.-M.Luedtke
No more Mr Nice Guy
By Gary Younge
[...] Say what you like about Nelson
Mandela, but he is not a man
known to bear a grudge or lose his
temper easily. Having waited
27 years for his freedom, he emerged
from jail to preach peace
and reconciliation to a nation
scarred by racism. When he finally
made the transition from the world's
most famous prisoner to the
world's most respected statesman, he
invited his former jailer to
the inauguration.
So when he criticises US foreign
policy in terms every bit as
harsh as those he used to condemn
apartheid, you know
something is up. In the past few
weeks, he has issued a "strong
condemnation" of the US's attitude
towards Iraq, lambasted
vice-president Dick Cheney for being
a "dinosaur" and accused
the US of being "a threat to world
peace".
Coming from other quarters, such
criticisms would have been
dismissed by both the White House
and Downing Street as the
words of appeasement,
anti-Americanism or leftwing extremism.
But Mandela is not just anyone.
Towering like a moral colossus
over the late 20th century, his
voice carries an ethical weight like
no other. [...]
What Mandela believes is wrong with
the world is not difficult to
fathom. He is annoyed at how the US
is exploiting its
overwhelming military might. [...]
"What right has Bush to say that
Iraq's offer is not genuine?" he
asked on Monday. "We must condemn
that very strongly. No
country, however strong, is entitled
to comment adversely in the
way the US has done. They think
they're the only power in the
world. They're not and they're
following a dangerous policy. One
country wants to bully the world."
Having supported the bombing of
Afghanistan, he cannot be
dismissed as a peacenik. But his
assessment of the current
phase of Bush's war on terror is as
damning as anything coming
out of the Arab world. "If you look
at these matters, you will
come to the conclusion that the
attitude of the United States of
America is a threat to world peace."
[...] Accusations of
discrimination do not fall often or
easily from Mandela's lips, but
when they do, the world is forced to
sit up and listen. So far, he
has fallen short of accusing the
west of racism in its dealings
with the developing world, but he
has implied sympathy with
those who do. "When there were white
secretary generals, you
didn't find this question of the US
and Britain going out of the
UN. But now that you've had black
secretary generals, such as
Boutros Boutros Ghali and Kofi
Annan, they do not respect the
UN. This is not my view, but that is
what is being said by many
people."
[...]
In fact, behind the scenes, the
White House is attempting to
portray Mandela, now 84, as
something of a dinosaur himself -
the former leader of an African
country, embittered by the
impotence that comes with retirement
and old age. It is a charge
they have found difficult to make
stick. Mandela has never been
particularly encumbered by delusions
of grandeur. When asked
whether he would be prepared to
mediate in the current dispute,
he replied. "If I am asked by
credible organisations to mediate, I
will consider that very seriously.
But a situation of this nature
does not need an individual, it
needs an organisation like the UN
to mediate. A man who has lost power
and influence can never
be a suitable mediator."
In truth, since leaving office he
has shown consummate
diplomatic skill. In 1999, he
persuaded Libyan leader Colonel
Gadafy to hand over the two alleged
intelligence agents indicted
in the 1988 Lockerbie bombing. He
was touted as a possible
mediator in the Middle East - a
suggestion quashed by the
Israeli government, which was
apartheid's chief arms supplier.
Last year he was personally involved
in the arrangement -
sanctioned by the UN - to send South
African troops to Burundi
as a confidence-building measure in
a bid to forestall a
Rwandan-style genocide. [...]
But if there is something wrong with
Mandela it is chiefly that for
the past decade he has been
thoroughly and wilfully
misunderstood. He has been portrayed
as a kindly old gent who
only wanted black and white people
to get on, rather than a
determined political activist who
wished to redress the power
imbalance between the races under
democratic rule. In the
years following his release, the
west wilfully mistook his push for
peace and reconciliation not as the
vital first steps to building a
consensus that could in turn build a
battered nation but as a
desire to both forgive and forget.
When he displayed a lack of personal
malice, they saw an
abundance of political meekness.
There is an implicit racism in
this that goes beyond Mandela to the
way in which the west
would like black leaders to behave.
After slavery and
colonialism, comes the desire to
draw a line under the past and
a veil over its legacy. [...] The price for a black leader's
entry to the international
statesman's hall of fame is not just
the sum of their good works
but either death or half of their
adult life behind bars.
In order to be deserving of
accolades, history must first be
rewritten to deprive them of their
militancy. Take Martin Luther
King, canonised after his death by
the liberal establishment but
vilified in his last years for
making a stand against America's
role in Vietnam. One of his aides,
Andrew Young, recalled: "This
man who had been respected worldwide
as a Nobel Prize winner
suddenly applied his non-violence
ethic and practice to the
realm of foreign policy. And no,
people said, it's all right for black
people to be non-violent when
they're dealing with white people,
but white people don't need to be
non-violent when they're
dealing with brown people."
[...] (Mandela made .. waves in the US when
he refused to condemn
Yasser Arafat, Colonel Gadafy and
Fidel Castro. Setting great
stock by the loyalty shown to both
him and his organisation
during the dog days of apartheid, he
has consistently
maintained that he would stick by
those who stuck by black
South Africa. It was wrong, he told
Americans, to suggest that
"our enemies are your enemies... We
are a liberation movement
and they support our struggle to the
hilt."
This, more than anything, provides
the US and Britain with their
biggest problem. They point to
pictures of him embracing
Gaddafi or transcripts of his
support for Castro as evidence that
his judgment has become flawed over
the years. But what they
regard as his weakness is in fact
his strength. He may have
forgiven, but he has not forgotten.
His recent criticisms of
America stretch back over 20 years
to its "unqualified support of
the Shah of Iran [which] lead
directly to the Islamic revolution of
1979".
The trouble is not that, when it
comes to his public
pronouncements, Mandela is acting
out of character. But that,
when it comes to global opinion, the
US and Britian are
increasingly out of touch.
Additional reporting by Shirley
Brooks.
The Guardian, Thursday September 19, 2002
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