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"Unverantwortlich, abscheulich, schamlos"

Eine bemerkenswerte Rede des demokratischen US-Senators Robert C. Byrd gegen die Bush-Doktrin

In der vergangenen Woche hat einer der prominentesten Senatoren seine Stimme gegen den krieg und gegen George W. Bush erhoben. Ungewöhnlich offen attackierte Robert C. Byrd, 85 Jahre alt und seit 1958 als Vertreter West Virginias im Senat, seine Kollegen und den US-Präsidenten. Wir dokumentieren seine Rede vom 12. Februar in einer deutschen Übersetzung von Peter Voß, München.

Krieg zu erwägen, bedeutet über die schrecklichste der menschlichen Erfahrungen nachzudenken. An diesem Februartag, an dem diese Nation am Rande einer kriegerischen Auseinandersetzung steht, muß jeder Amerikaner bis zu einem gewissen Grad die Schrecken eines Krieges betrachten.

Aber diese Kammer ist für die meiste Zeit still -- bedrohlich, schrecklich still. Es gibt keine Debatte, keine Diskussion, keinen Versuch, für die Nation die Vor- und Nachteile dieses besonderen Krieges darzulegen. Da ist nichts.

Wir verharren passiv stumm im Senat der Vereinigten Staaten, paralysiert von unserer eigenen Unsicherheit, scheinbar betäubt durch den schieren Aufruhr der Ereignisse. Nur auf den Kommentarseiten unserer Zeitungen gibt es noch eine substantielle Diskussion über die Überlegtheit oder die Unklugheit, diesen besonderen Krieg zu beginnen.

Und dies ist keine kleine Feuersbrunst, über die wir nachsinnen. Dies ist nicht ein einfacher Versuch, einem Bösewicht die Zähne zu ziehen. Diese aufkommende Schlacht, wenn sie denn kommt, stellt einen Wendepunkt in der US-Außenpolitik dar und möglicherweise einen Wendepunkt in der jüngeren Geschichte der Welt.

Diese Nation ist dabei, einen ersten Test einer revolutionären Doktrin zu beginnen, die in einer außergewöhnlichen Weise zu einem ungünstigen Zeitpunkt angewendet wird. Die Doktrin der Vorbeugung - die Idee, daß die USA oder irgendeine andere Nation das Recht haben, eine Nation anzugreifen, die nicht unmittelbar bedrohlich ist, aber in Zukunft bedrohlich werden könnte - ist eine radikal neue Wendung in der traditionellen Vorstellung von Selbstverteidigung. Sie scheint ein Verstoß gegen internationales Recht und gegen die UN Charta zu sein. Und sie wird getestet in einer Zeit des weltweiten Terrorismus, wo sich viele Länder auf dem ganzen Globus fragen müssen, ob sie nicht bald auf unserer Abschußliste -- oder der einer anderen Nation - sein werden. Hochrangige Regierungsvertreter haben es kürzlich abgelehnt, Nuklearwaffen von der Tagesordnung zu nehmen, als ein möglicher Angriff auf den Irak diskutiert wurde. Was könnte destabilisierender und unklüger sein als diese Art von Unsicherheit, besonders in einer Welt, in der die Globalisierung die lebenswichtigen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen so vieler Nationen so eng miteinander verknüpft hat? Es bilden sich riesige Brüche in unseren althergebrachten Bündnissen, und die Absichten der USA sind plötzlich der Gegenstand weltweiter zerstörerischer Spekulation. Antiamerikanismus hervorgerufen durch Mißtrauen, Falschinformation, Verdächtigung und alarmierende Rhetorik von US-Führern zerbricht das einst feste Bündnis gegen den globalen Terrorismus, das nach dem 11. September existierte.

Hier zuhause werden die Leute vor bevorstehenden Terroristenangriffen gewarnt, ohne daß es Hinweise gibt, wann oder wo solche Angriffe geschehen könnten. Familienmitglieder werden zum Militärdienst eingezogen ohne Vorstellung über die Länge ihres Verbleibs oder darüber, auf welche Schrecken sie sich einstellen müssen. Kommunen haben dadurch keinen ausreichenden Polizei- und Feuerwehrschutz mehr. Andere wesentliche Dienste sind ebenfalls unterbesetzt. Die Stimmung der Nation ist düster. Die Wirtschaft stagniert. Die Benzinpreise steigen und können bald noch höher schnellen.

Diese Regierung, die jetzt etwas über zwei Jahre im Amt ist, muß nach ihren Leistungen beurteilt werden. Ich glaube, daß diese Leistungen kläglich sind.

In diesen gerade mal zwei Jahren hat diese Administration einen für die nächste Dekade vorhergesehenen Überschuß von $ 5,6 Billionen verschleudert und uns zu projektierten Defiziten geführt soweit das Auge reicht. Die Innenpolitik dieser Regierung hat viele unserer Staaten in einen gräßlichen finanziellen Zustand versetzt, wodurch viele wesentliche Programme für unsere Menschen unterfinanziert sind. Diese Regierung hat eine Politik gefördert, die das wirtschaftliche Wachstum verlangsamt hat. Diese Regierung hat dringende Angelegenheiten wie die Krise des Gesundheitswesens für unsere alten Menschen ignoriert. Diese Regierung hat nur langsam die notwendigen Mittel für die Heimat-Sicherung bereitgestellt. Diese Regierung war unwillig, unsere langen und durchlässigen Grenzen zu schützen.

Außenpolitisch ist es dieser Regierung nicht gelungen, Osama bin Laden zu finden. Tatsächlich haben wir gerade gestern von ihm gehört, wie er seine Kräfte zusammenruft und sie drängt zu töten. Diese Regierung hat traditionelle Bündnisse zerrissen und lähmt dadurch möglicherweise für alle Zeiten internationale Ordnungskräfte wie die UN und die NATO. Diese Regierung hat Zweifel wach gerufen an der traditionellen weltweiten Wahrnehmung der USA als Friedensbewahrer mit guten Absichten. Diese Regierung hat die geduldige Kunst der Diplomatie gewandelt in Drohungen, Abstempelungen und Namensvergleichen von einer Art, die ein armseliges Spiegelbild der Intelligenz und der Empfindsamkeit unserer Führer ist, und die für die kommenden Jahre Konsequenzen haben wird.

Wenn die Führer anderer Staaten als Pygmäen bezeichnet werden, ganze Länder als böse, wenn mächtige europäische Verbündete als irrelevant verunglimpft werden - diese Arten grober Gefühlslosigkeit können für unsere große Nation nichts Gutes bedeuten. Wir mögen überlegene militärische Macht haben, aber wir können einen globalen Kampf gegen den Terrorismus nicht alleine führen. Wir benötigen die Zusammenarbeit und die Freundschaft unserer althergebrachten Verbündeten genauso wie die neu gefundenen Freunde, die wir durch unseren Reichtum anziehen. Unsere furchterregende Militärmaschine wird uns wenig helfen, wenn wir einen neuen verheerenden Anschlag auf unser Heimatland erleben, der unsere Wirtschaft ernsthaft beschädigt. Unser militärisches Personal ist schon stark ausgedünnt, und wir werden die verstärkende Unterstützung derjenigen Nationen benötigen, die Truppen bereitstellen können und nicht nur uns bejubelnde Briefe unterschreiben.

Der Krieg in Afghanistan hat uns bisher $ 37 Milliarden gekostet; trotzdem gibt es Hinweise, daß der Terrorismus seine Stellung in der Region wieder aufbaut. Wir haben bin Laden nicht gefunden, und wenn wir den Frieden in Afghanistan nicht sichern, werden die dunklen Zellen des Terrorismus wieder aufleben in diesem fernen und verwüsteten Land.

Pakistan ist auch der Gefahr destabilisierender Kräfte ausgesetzt. Diese Regierung hat ihren ersten Krieg gegen den Terrorismus noch nicht beendet und schon ist sie begierig, sich in einen neuen Konflikt zu stürzen, der wesentlich größere Gefahren mit sich bringt als der in Afghanistan. Ist unsere Aufmerksamkeitphase so kurz? Haben wir nicht gelernt, das nach einem gewonnenen Krieg immer der Frieden gesichert werden muß?

Und trotzdem hören wir sehr wenig über die Nachwirkungen des Krieges im Irak. In Abwesenheit von Plänen ist die Spekulation im Ausland weitverbreitet. Werden wir die Ölfelder des Irak beschlagnahmen und dadurch eine Besatzungsmacht werden, die den Preis und den Nachschub des Öls dieser Nation für die vorhersehbare Zukunft kontrolliert? Wem möchten wir die Zügel der Macht nach Saddam Hussein übergeben?

Wird unser Krieg die muslimische Welt in Flammen setzen mit verwüstenden Angriffen auf Israel in der Folge? Wird Israel zurückschlagen mit seinem eigenen nuklearen Arsenal? Werden die jordanischen und die saudiarabischen Regierungen durch radikale Kräfte gestürzt, unterstützt durch den Iran, der viel engere Verbindungen zum Terrorismus hat als der Irak?

Könnte eine Unterbrechung der Ölversorgung der Welt zu einer weltweiten Rezession führen? Hat unsere sinnlose kriegerische Sprache und unsere gefühllose Geringschätzung der Interessen und Meinungen anderer Nationen das globale Rennen, ein Mitglied des Nuklearklubs zu werden, verstärkt und hat es die Weitergabe zu einem noch einträglicheren Geschäft für Nationen gemacht, die das Einkommen brauchen?

In dem Zeitraum von zwei kurzen Jahren hat diese rücksichtslose und arrogante Regierung eine Politik begonnen, die auf Jahre hinaus verheerende Folgen haben wird.

Man kann die Wut und den Schock eines jeden Präsidenten nach den brutalen Angriffen des 11. September verstehen. Man kann die Frustration nachfühlen, nur einen Schatten jagen zu können und einen amorphen, leichtfüßigen Feind zu haben, an dem es fast unmöglich ist, Vergeltung zu üben.

Aber die eigene Frustration und Wut in die Art des extrem destabilisierenden und gefährlichen außenpolitischen Debakels zu verlagern, den die Welt im Augenblick erlebt, ist unentschuldbar für jede Regierung, die mit einer derart furchtbaren Macht ausgestattet ist und mit der Verantwortung für das Schicksal der größten Supermacht auf diesem Planeten. Ehrlich gesagt, viele der Erklärungen dieser Administration sind einfach ungeheuerlich. Es gibt kein anderes Wort.

Doch diese Kammer schweigt geisterhaft. An der Schwelle von möglicherweise schrecklichen Auswirkungen von Tod und Zerstörung auf die Bevölkerung der Nation des Irak - ich möge hinzufügen, eine Bevölkerung, die zu über 50 % unter 15 Jahre alt ist - schweigt diese Kammer. An der Schwelle zu was möglicherweise ein brutaler Terroristen-Vergeltungsangriff für unseren Angriff auf den Irak sein kann, haben wir normalen Geschäftsbetrieb im US-Senat.

Wir sind wahrhaft "Schlafwandler durch die Geschichte". Im Grunde meines Herzens bete ich, daß auf diese große Nation und seine guten und gutgläubigen Bürger kein grausames Erwachen wartet.

Einen Krieg anfangen bedeutet immer einen Joker ziehen. Und Krieg muß immer die letzte Möglichkeit sein, nicht die erste Wahl. Ich muß wahrhaftig das Urteilsvermögen eines Präsidenten in Frage stellen, der sagen kann, daß ein massiver unprovozierter militärischer Angriff auf eine Nation mit über 50 % Kindern "in der höchsten moralischen Tradition unseres Landes ist". Dieser Krieg ist zur jetzigen Zeit nicht notwendig. Druck scheint im Irak ein gutes Ergebnis zu bringen. Unser Fehler war, uns so schnell in eine Ecke zu stellen. Unsere Herausforderung ist jetzt, einen eleganten Weg aus der selbst gestellten Falle heraus zu finden. Vielleicht gibt es einen Weg, wenn wir mehr Zeit zulassen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hans Voß, München


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