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Irak: Chronik wichtiger Ereignisse

November 2010


Montag, 1. November, bis Sonntag, 7. November
  • Die jüngste Anschlagserie (2. November) auf schiitische Stadtbezirke in Bagdad hat nach offiziellen Angaben 64 Menschen das Leben gekostet. Gesundheitsminister Salih al-Hasnawi sagte, 360 Menschen seien verletzt worden, als 15 ferngezündete Autobomben und fünf kleinere Sprengsätze detonierten. Einige irakische Beobachter zweifelten die offiziellen Opferzahlen jedoch an und erklärten, es seien mindestens 100 Menschen getötet worden. Die neue Welle der Gewalt löste international Entsetzen aus. Mehrere Regierungen und die Organisation der Islamischen Konferenz verurteilten die Anschläge und appellierten gleichzeitig an die Parteien im Irak, möglichst rasch eine neue Regierung zu bilden, so die Presse am 3. November.
  • In einem Bekennerschreiben im Namen des «Informationsministeriums des Islamischen Staates im Irak», das am 5. November auf Islamisten-Websites auftauchte, werden die Anschläge als «Blutrache» bezeichnet. Schiitische Religionsgelehrte hätten die Frauen und Gefährten des Propheten Mohammed beleidigt, heißt es in darin weiter. Die Bomben vom vergangenen Dienstag (2. November) seien erst der Anfang. Der «Islamische Staat im Irak» ist ein Zusammenschluss von militanten Fanatikern, die sich zu der Ideologie des sunnitischen Terrornetzwerks Al-Kaida von Osama bin Laden bekennen. Der Al-Kaida- Ableger im Irak, dem auch zahlreiche Saudis angehören, ist gegenüber den schiitischen Muslimen noch negativer eingestellt als die Al-Kaida-Spitze.
  • Angesichts des seit acht Monaten währenden politischen Stillstands im Irak wollen mehrere Organisationen die Abgeordneten mit einer Klage vor dem Obersten Gerichtshof zur Rückzahlung ihrer Bezüge zwingen. Die Parlamentarier müssten Diäten und Aufwandsentschädigungen in Höhe von umgerechnet 28 Millionen Euro, die sie nach ihrer Wahl Anfang März vom Staat bezogen, zurückzahlen, erklärte die Zivile irakische Initiative für den Schutz der Verfassung, ein Bündnis aus zwölf Organisationen, am 5. November in Bagdad. Um das zu erreichen, werde sie Klage beim Obersten Gerichtshof einlegen. Die Initiative kritisiert, dass das Parlament seine reguläre Arbeit wegen Uneinigkeit über die künftige Regierungsführung immer noch nicht aufgenommen hat. Für Samstagmorgen (6. November) kündigte sie eine Demonstration vor dem Freiheitsdenkmal auf dem Tahrir-Platz in der irakischen Hauptstadt Bagdad an. Bereits vor knapp zwei Wochen hatte die Initiative mit einer Klage vor dem Obersten Gerichtshof Erfolg gehabt: Das Gericht ordnete eine baldmögliche Arbeitsaufnahme des neuen Parlament an. Eine für kommenden Montag (8. November) geplante Parlamentssitzung wurde jedoch auf Donnerstag (11. November) verschoben, wie ein Parlamentsmitarbeiter unter Berufung auf den Alterspräsidenten des Parlaments, Fuad Massum, am 5. November mitteilte.
  • Vor dem Obersten Gerichtshof in London hat eine Anhörung zu Missbrauchsvorwürfen von mehr als 140 irakischen Zivilisten gegen britische Soldaten begonnen. Es gebe "glaubhafte Anschuldigungen über unmenschliche Praktiken" in britischen Militärgefängnissen im Irak, sagte Michael Fordham, einer der Anwälte der Iraker, am 5. November vor dem Gericht. Die Anwälte wollen auf dem Rechtsweg eine öffentliche Untersuchung der Vorwürfe durchsetzen, der britische Verteidigungsminister Liam Fox hatte eine solche Untersuchung zuvor abgelehnt.
  • In die Verhandlungen über eine Regierungsbildung im Irak ist nach monatelangem Stillstand Bewegung kommen. Regierungssprecher Ali el Dabbagh sagte am 7. November der Nachrichtenagentur AFP in Bagdad, die Parteien hätten am Vortag eine Einigung über die künftige Machtverteilung erzielt. Demnach solle der bisherige schiitische Ministerpräsident Nuri el Maliki weiterhin Regierungschef bleiben, Präsident Dschalal Talabani solle weiter als Staatschef amtieren. Das vom früheren Ministerpräsidenten Ijad Allawi angeführte sunnitisch-schiitische Wahlbündnis Irakija soll den Angaben zufolge künftig den Parlamentspräsidenten stellen.
Montag, 8. November, bis Sonntag, 14. November
  • Terroristen haben am 8. November im Irak zwei Anschläge auf schiitische Pilger verübt. In der Stadt Kerbela sprengte sich ein Selbstmordattentäter mit einer Autobombe neben einem Bus voller iranischer Pilger in die Luft. Nach Angaben der Gesundheitsbehörde von Kerbela starben zwölf Menschen, darunter sieben Iraner. 36 Menschen wurden verletzt. In der Nachbarstadt Nadschaf explodierte wenige Stunden später eine zweite Autobombe neben einem Bus. Zur Zahl der Opfer dieses Anschlages lagen zunächst keine gesicherten Informationen vor. Kerbela und Nadschaf gehören zu den wichtigsten Wallfahrtsorten der schiitischen Muslime weltweit.
  • Rund 60 private Sicherheitsfirmen, von denen einige auch in Afghanistan und im Irak tätig sind, haben am 9. November einen internationalen Verhaltenskodex unterzeichnet. Nach Angaben von Diplomaten und Vertretern der Sicherheitsunternehmen schließt die Vereinbarung eine Gesetzeslücke und fordert die Festsetzung von Mindeststandards für den Einsatz im Ausland. Zudem sehe das Dokument die Festlegung von Normen bei Rekrutierung, Ausbildung und Kontrolle der Mitarbeiter vor. Die Unterzeichner verständigten sich den Angaben zufolge auch darauf, den Einsatz von Gewalt zu begrenzen.
  • Die Hoffnungen auf ein Ende der Regierungskrise im Irak haben sich eingetrübt: Am zweiten Tag der Gespräche über eine Machtteilung waren am 9. November in Bagdad mehrere wichtige Politiker nicht anwesend, andere verließen das Treffen. Wie aus Teilnehmerkreisen verlautete, nahm unter anderem der frühere Ministerpräsident Ijad Allawi nicht an der Runde teil. Allawis Wahlbündnis Irakija war Anfang März als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen hervorgegangen, seitdem ringt er mit dem bisherigen Ministerpräsident Nuri el Maliki um das Amt des Regierungschefs.
  • Bei einer Serie von Anschlägen auf Häuser von Christen in der irakischen Hauptstadt Bagdad sind drei Menschen getötet und 26 weitere verletzt worden. Mit zwei Mörsergranaten und zehn selbst gebauten Sprengsätzen seien am 10. November Wohnhäuser von Christen in mehreren Vierteln Bagdads angegriffen worden, erfuhr die Nachrichtenagentur AFP von einem Vertreter des irakischen Innenministeriums, der anonym bleiben wollte. Bereits am Dienstagabend (9. November) waren in Bagdad auf drei Häuser im Besitz von Christen Bombenanschläge verübt worden, dabei war jedoch niemand verletzt worden.
  • Das Machtvakuum im Irak ist beendet: Die Abgeordneten wählten den Sunniten Ussama el Nudschaifi zum neuen Parlamentspräsidenten und bestätigten den Kurden Dschalal Talabani im Amt des Präsidenten. Zuvor hatten sich die politischen Kräfte des Landes sich auf eine Regierung unter Ministerpräsident Nuri el Maliki geeinigt, die die drei größten Bevölkerungsgruppen - Schiiten, Sunniten und Kurden - repräsentiert. Der Sunnit Nudschaifi war der einzige Kandidat für den Posten des Parlamentspräsidenten. Der 54-Jährige gehört dem säkularen Wahlbündnis Irakija von Ex-Regierungschef Ijad Allawi an, das im März mit 91 von 325 Parlamentssitzen als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgegangen war. Irakija hatte nach dem Wahlerfolg vom März das Amt des Ministerpräsidenten für sich beansprucht. Malikis Rechtsstaatsallianz hatte nur 89 Sitze erreicht, aber erfolgreich eine Gegen-Allianz geschmiedet. Der Streit zwischen den Rivalen um das Amt des Ministerpräsidenten blockierte die Regierungsbildung in den vergangenen acht Monaten, so die Presse am 11. November.
  • Der irakische Ministerpräsident Nuri el Maliki beginnt am 12. November nach seiner Bestätigung im Amt heute mit der Bildung seines neuen Kabinetts. Die Einigung auf eine Machtteilung zwischen den drei größten Bevölkerungsgruppen im Irak, die acht Monate nach den Wahlen den Weg für eine Regierungsbildung frei machte, war am Donnerstag (11. November) von einem heftigen Streit im Parlament überschattet worden.
  • Im Irak hat das Parlament den Kompromiss zur Machtteilung im Land offiziell beschlossen. Die Abgeordneten aller Fraktionen hätten die Einigung am 13. November gebilligt, sagte ein Vertreter des Parlaments, der anonym bleiben wollte, in Bagdad der Nachrichtenagentur AFP. Damit sind acht Monate politischer Stillstand im Irak wohl endgültig überwunden.
Montag, 15. November, bis Sonntag, 21. November
  • Der irakische Präsident Dschalal Talabani will die Vollstreckung des Todesurteils gegen den früheren Vize-Regierungschef Tarik Asis verhindern. "Ich werde diese Anordnung zur Hinrichtung nie unterzeichnen", sagte Talabani am 17. November dem französischen Sender France 24. Der Präsident kurdischer Herkunft verwies zur Begründung darauf, dass er selbst Sozialist sei und dass der christliche Asis bereits über 70 Jahre alt sei. Die UNO, der Vatikan und die Europäische Union haben den Irak aufgefordert, von der Vollstreckung des Todesurteils abzusehen.
  • Bei den jüngsten Terrorszenarien geht es auch um eine angebliche Zusammenarbeit zwischen einer schiitisch-indischen Gruppe, die sich «Saif» («Schwert») nennt, und Al-Kaida. Bisher gab es für eine Zusammenarbeit des sunnitischen Al-Kaida-Terrornetzwerkes mit schiitischen Extremisten keinerlei Beweise. Sie wäre aufgrund der unterschiedlichen religiösen Auffassungen und Ideologien der jeweiligen Gruppierungen auch nur sehr schwer vorstellbar. Die lokalen Ableger von Al-Kaida im Irak, in Saudi-Arabien und im Jemen haben die schiitischen Muslime sogar zu Feinden erklärt. Ein großer Teil der Anschläge von Al-Kaida im Irak richtet sich gegen schiitische Zivilisten. Für die im Untergrund lebende Al-Kaida-Führung um Osama bin Laden ist der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten dagegen kein beherrschendes Thema. so Presseberichten zufolge am 20. November.
  • US-Vizepräsident Joe Biden hat sich am 21. November für ein fortdauerndes Engagement der USA im Irak ausgesprochen. "Die Vereinigten Staaten müssen auch im Irak weiterhin ihren Beitrag zum Fortschritt des Landes leisten", schrieb Biden in einem Beitrag für die "New York Times". Washington ziehe sich daher nicht aus dem Land zurück. "Vielmehr muss unser Engagement von einem militärischen in einen zivilen Ansatz übergehen."
  • Der Irak hat das Budget zur Finanzierung von Sozialprogramme für 2010 aufgebraucht. Die an Öl reiche Nation habe keine Mittel mehr, um Witwenrenten, Agrarsubventionen und andere Unterstützungsleistungen für Arme zu bezahlen, sagte Parlamentssprecher Osama al Nujaifi am 21. November. Der genaue Verbleib sei unklar. Er werde von der Regierung Auskunft über den Verbleib der Gelder verlangen, versprach er den Abgeordneten, die Aufklärung forderten. Neue Gelder könnten lediglich vom Budget 2011 abgezweigt werden, sagte al Nujaifi. Das Finanzministerium hatte die Parlamentarier kürzlich auf das aufgebrauchte Budget hingewiesen, das auf eine Milliarde Dollar (etwa 730 Millionen Euro) geschätzte wird. Die Abgeordneten selbst haben in diesem Jahr Bezüge in Höhe von 180.000 Dollar (etwa 132.000 Euro) erhalten. Seit März kamen die Volksvertreter zu vier Sitzungen zusammen.
Montag, 22. November, bis Dienstag, 30. November
  • Nach drei Kriegen herrscht im Irak akute Wohnungsnot. Landesweit fehlen nach Schätzungen der Regierung rund zwei Mio. Wohnungen. Neben Investoren mangelt es vor allem an Know-how und gut ausgebildeten Fachkräften. Daher unterstützt die DEG - Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH nun den Aufbau eines Schulungszentrums für Trockenbau im Irak. Privater Partner des Vorhabens ist das Familienunternehmen Knauf (in Form der Knauf International GmbH), einer der führenden europäischen Hersteller von Baustoffen auf Gipsbasis und langjähriger Partner der DEG. "Mit dem Projekt unterstützen wir ein deutsches Unternehmen, mit dem uns eine lange Zusammenarbeit verbindet. Außerdem tragen wir dazu bei, den Wiederaufbau im Irak und damit die wirtschaftliche Entwicklung in dem Land voranzutreiben", sagte Dr. Michael Bornmann, Mitglied der DEG-Geschäftsführung, anlässlich der Vertragsunterzeichnung am 24. November in Köln.
  • Der am 25. November im Irak offiziell mit der Regierungsbildung beauftragte bisherige Ministerpräsident Nuri al-Maliki hat die politischen Gruppen im Land zur Geschlossenheit aufgefordert. "Ich rufe das irakische Volk, alle religiösen Gruppen und unterschiedlichen Ethnien sowie meine Brüder, die Politiker, dazu auf, all die Hindernisse zu überwinden und hinter uns zu lassen", sagte der designierte Ministerpräsident. Zuvor hatte das staatliche Fernsehen berichtete, Staatschef Dschalal al Talabani habe Al-Maliki am 25. November den lang erwarteten Auftrag erteilt. Die Entscheidung fiel fast neun Monate nach der Parlamentswahl. Seitdem herrschte quasi politischer Stillstand im Land. Der Regierungschef hat nun 30 Tage Zeit, sein Kabinett zusammenzustellen. Al-Mailiki habe eine lange Liste von Aufgaben in dieser Zeit abzuarbeiten, sagte der amerikanische Botschafter im Irak, James F. Jeffrey, der Nachrichtenagentur AP. "Er ist in einer starken Position", sagte Jeffrey. Nicht zu vergessen sei aber, dass die 325 Abgeordneten im Parlament das letzte Wort hätten. Sowohl Jeffrey als auch der US-Oberbefehlshaber im Irak, Generalleutnant Lloyd Austin, äußerten sich zuversichtlich, dass sich die Demokratie in dem Land durchsetzen werde. Der Regierungsauftrag für Al-Maliki ist Teil eines Kompromisses der großen Parteien zur künftigen Machtaufteilung im Irak, nachdem die Parlamentswahl am 7. März keine klaren Mehrheitsverhältnisse ergeben hatte. Teil des Abkommens war auch die Wiederwahl Talabanis am 11. November. Es wird nun die Aufgabe von al-Maliki sein, die jeweiligen Parteien mit entsprechendem Einfluss auszustatten, will er nicht riskieren, dass sie die Regierung wieder verlassen und damit die noch immer fragile Demokratie einer möglicherweise schweren Krise auszusetzen. "Ich weiß und Sie wissen, dass die Verantwortung, die ich übernehme angesichts der schwierigen Umstände, in den sich unser Land befindet, keine einfache ist", sagte al-Maliki.
  • Der frühere irakische Vizeregierungschef Tarik Asis ist am 29. November wegen der Ermordung schiitischer Kurden zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Das Oberste Strafgericht in Bagdad habe ihn und Ahmed Hussein Chodeir, einen weiteren Vertrauten des damaligen Machthabers Saddam Hussein, der während des Kriegs gegen den Iran (1980-1988) verübten Verbrechen für schuldig befunden, sagte ein Gerichtssprecher der Nachrichtenagentur AFP. Der frühere Innenminister Saadun Schaker und zwei weitere Verantwortliche seien zum Tod verurteilt worden. Sieben weitere Angeklagte seien mangels Beweisen freigesprochen worden.


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