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Irak: Chronik wichtiger Ereignisse

September 2010


Mittwoch, 1. September, bis Sonntag, 5. September
  • US-Präsident Barack Obama hat offiziell den Irakkrieg der Amerikaner beendet. In einer Ansprache an die Nation zog er eine bittere Bilanz über siebeneinhalb Jahre Kampfeinsatz. Er gedachte am 1. September der mehr als 4400 gefallenen und 34.000 verletzten Amerikaner. Obama blickte besorgt auf die ökonomischen Kriegskosten. "Wir haben mehr als eine Billion Dollar im Krieg ausgegeben, häufig finanziert mit geliehenem Geld aus dem Ausland." Dies habe notwendige Investitionen im eigenen Land verknappt und zu Rekordschulden beigetragen. "Die Vereinigten Staaten haben einen hohen Preis dafür bezahlt, die Zukunft des Irak in die Hände des Volkes zu legen", sagte Obama, der den Krieg von Anfang an abgelehnt hatte. Es sei im Interesse des Iraks, aber auch im Interesse der USA, dass dieser Krieg nun zu Ende ginge. Mit dem Ende des Kampfeinsatzes habe er ein Wahlversprechen erfüllt. "Während dieses bemerkenswerten Kapitels in der Geschichte der Vereinigten Staaten und des Iraks sind wir unserer Verantwortung gerecht geworden. Jetzt ist es an der Zeit, eine neue Seite aufzuschlagen." Des Weiteren betonte der US-Präsident den Führungsanspruch Amerikas in der Welt. Dieser lasse sich aber dauerhaft nur durchsetzen, wenn es Amerika gut ginge. Sein Land trete ein für den Frieden im Nahen Osten. "Ein neuer Anstoß" für Frieden in Nahost gebe man an diesem Mittwoch (1. September) in Washington, meinte er mit Blick auf die neue Runde der Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern.
  • Die US-Söldnerfirma Blackwater hat nach Informationen der «New York Times» 31 Firmen gegründet, um unter anderen Namen Aufträge der US-Streitkräfte und -Geheimdienste zu erhalten. Das habe der Streitkräfteausschuss des Senats ermittelt, schreibt das Blatt am 3. September. Blackwater hat sich in XE Services umbenannt, nachdem das Unternehmen wegen der Erschießung von 17 Zivilisten in Bagdad 2007 in die Kritik geraten war. Das US-Außenministerium hatte damals Blackwater Aufträge zum Schutz von Mitarbeitern und Konvois im Irak entzogen. Mindestens drei Blackwater-Töchter hätten vom Geheimdienst CIA Aufträge erhalten, schreibt die Zeitung. Alleine die CIA hat Blackwater und seinen Töchtern seit 2001 Aufträge für 600 Millionen Dollar erteilt. Darunter ist ein neuer Auftrag über 100 Millionen Dollar für Einsätze in Afghanistan. Der Vorsitzende des Senatsausschusses, Carl Levin (Demokraten), rief das Justizministerium auf, zu untersuchen, ob Blackwater mit dem Auftritt unter Dutzenden Namen die US-Behörden bei Aufträgen getäuscht habe. Blackwater war auch wegen illegalen Waffenexports im Visier der Behörden.
  • Bei einem Selbstmordanschlag auf ein Armeegebäude in der irakischen Hauptstadt Bagdad sind am 5. September mindestens zwölf Menschen getötet worden. Zudem seien 36 weitere Menschen verletzt worden, teilte die Armee mit. Die insgesamt fünf Attentäter fuhren mit einem Minibus vor dem Gebäude vor, den sie zur Explosion brachten.
Montag, 6. September, bis Sonntag, 12. September
  • Bei Kämpfen zwischen der türkischen Armee und Rebellen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sind am 7. September nach Angaben von Sicherheitskräften im Osten des Landes neun Rebellen getötet worden. Die PKK-Anhänger seien bei einem Militäreinsatz nach einem Rebellenangriff auf einen Armeeposten in der Provinz Hakkari an der Grenze zu Iran und Irak ums Leben gekommen, sagten Vertreter der örtlichen Sicherheitsbehörden am 7. September. Bei dem Einsatz sei ein Soldat verletzt worden.
  • Eine Woche nach dem offiziellen Ende des US-Kampfeinsatzes im Irak sind am 7. September zwei US-Armeeangehörige von einem einheimischen Soldaten erschossen worden. Neun weitere US-Soldaten seien bei der Schießerei auf einer irakischen Militärbasis rund 175 Kilometer nördlich von Bagdad verletzt worden, teilte die US-Armee mit. Der Angreifer, der aus einer kleinkalibrigen Waffe das Feuer eröffnet habe, sei von Sicherheitskräften erschossen worden. Die US-Soldaten waren demnach als Begleitkommando eines Offiziers im Einsatz, der zu einem Besuch der Militärbasis nahe der Stadt Tus Churmatu angereist war.
  • Seit dem Einmarsch der US-geführten Truppen im Irak im März 2003 sind in dem vorderasiatischen Land 230 Medienmitarbeiter getötet worden. Diese Bilanz zieht Reporter ohne Grenzen (ROG) in einem am 7. September veröffentlichten Bericht zur Entwicklung der Pressefreiheit im Irak. In der Studie wird der Zeitraum von Beginn der Invasion der US-Koalition am 20. März 2003 bis zum Rückzug der letzten Kampfeinheit der US-Armee aus dem Land am 19. August 2010 untersucht. Der Sturz des ehemaligen Machthabers Saddam Hussein nach Beginn der "Operation Iraqi Freedom" bedeutete zwar größere Freiräume für Journalisten und Medien im Irak. Aber die folgenden politischen und ethnischen Auseinandersetzungen verursachten auch ein extremes Ausmaß an Gewalt, die sich auch gegen Medienvertreter richtete. "Bis heute liegt die Zahl der ermordeten Journalisten und Medienmitarbeiter bei 230", heißt es in dem Bericht. "Das übersteigt die Zahl der getöteten Reporter während des Vietnamkrieges." Während des Vietnam-Kriegs von 1955 bis 1975 kamen 63 Journalisten ums Leben. Rund 70 Prozent der Journalisten starben bei gezielten Anschlägen und Attacken - eine weitaus höhere Rate als bei vorangegangenen Kriegen. In mehr als 80 Prozent der Fälle kamen die Täter aus den Reihen bewaffneter Gruppen, die im Widerstand zur US-Koalition und der irakischen Regierung stehen. Für rund zehn Prozent der Todesfälle waren die internationalen Besatzungstruppen verantwortlich. Die meisten Todesopfer, fast 90 Prozent, waren irakische Medienvertreter. Vermutlich spielten in vielen Fällen die politische Ausrichtung oder Nähe zu ethnischen Gruppen der Medien, für die sie arbeiteten, eine Rolle. Vor allem staatliche Medien wurden zur Zielscheibe von Gewalt: Sie werden von militanten oppositionellen Gruppen häufig verdächtigt, im Dienst der US-amerikanischen Streitkräfte zu stehen und deswegen als Verräter oder Feinde betrachtet. ROG verzeichnete in den vergangenen Jahren einen weiteren Negativrekord im Irak. Mindestens 93 Medienmitarbeiter wurden im Untersuchungszeitraum des Berichts entführt. 47 von ihnen wurden wieder frei gelassen, 32 ermordet, das Schicksal weiterer 14 entführter Medienschaffender bleibt ungewiss. Schließlich dokumentiert ROG in dem Bericht zahlreiche Festnahmen von Journalisten. US-amerikanische Soldaten verhafteten rund 30 Journalisten, die irakischen Behörden nahmen mehrere Dutzend Reporter fest. Die meisten Journalisten wurden unter dem Verdacht verhaftet, sie kollaborierten mit aufständischen Gruppen. Aus Sicht von ROG handelte es sich häufig um willkürliche Festnahmen, deren Rechtmäßigkeit nicht ausreichend überprüft wurde. Das jüngste Opfer der Gewalt im Irak war in dieser Woche der 35-jährige Fernsehmoderator Riad el Sarai, der für den staatlichen Fernsehsender "El Irakija" gearbeitet hatte. Er wurde von unbekannten bewaffneten Männern am 7. September erschossen, als er am Morgen sein Haus in Bagdad verließ. ROG verlangt die umgehende Einleitung von Ermittlungen.
  • Aus einem Hochsicherheitsgefängnis im Irak sind vier ranghohe Mitglieder des Terrornetzwerks El Kaida geflüchtet. Sie seien "am Mittwochabend (8. September) aus dem Gefängnis Camp Cropper" in der Nähe des Bagdader Flughafens ausgebrochen, sagte der Sprecher des irakischen Einsatzkommandos in Bagdad, Kassem Atta, am 9. September. Dabei verwendete er den früheren Namen des Gefängnisses, das nach der Übergabe der Verantwortung von der US-Armee an das irakische Militär im Juli in Karch umbenannt worden war. Die Flüchtigen seien von US-Kräften, nicht von der irakischen Armee überwacht worden, sagte Atta.
  • Nach Monaten ergebnisloser Koalitionsverhandlungen haben die USA die politischen Führer des Irak einem Zeitungsbericht zufolge einen Kompromissvorschlag zur Regierungsbildung unterbreitet. Wie die "New York Times" am 10. September unter Berufung auf Regierungskreise in Washington berichtete, könnte Ministerpräsident Nuri el Maliki demnach im Amt bleiben, müsste sich die Macht aber mit seinem Rivalen Ijad Allawi und der kurdischen Allianz teilen.
  • Die auf Enthüllungen spezialisierte Internetplattform Wikileaks wird einem Medienbericht zufolge in Kürze zahlreiche geheime US-Dokumente zum Irak-Krieg veröffentlichen. Das US-Magazin "Newsweek" zitierte den Chefredakteur der in London ansässigen Journalistenorganisation Büro für investigativen Journalismus, Iain Overton, am 10. September mit den Worten, es werde sich dabei um die "größte Veröffentlichung von Geheimdokumenten" überhaupt handeln. Das Material über den Irak-Krieg werde dreimal so umfangreich sein wie das Material, das Wikileaks Ende Juli über den Einsatz in Afghanistan veröffentlicht hatte.
Montag, 13. September, bis Sonntag, 19. September
  • In irakischen Gefängnissen sind nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) etwa 30.000 Menschen ohne Anklage eingesperrt. Es herrschten "Willkür und Brutalität", sagte ai-Irakexperte Carsten Jürgensen anlässlich der Veröffentlichung des Berichts "New Order, Same Abuses: Unlawful detentions and torture in Iraq" am 13. September. Die Gefangenen würden ohne Zugang zu einem Anwalt und ohne Kontakt zu ihren Familien festgehalten, sie seien zudem ständig in Gefahr, gefoltert zu werden. Laut Jürgensen droht den etwa 10.000 Häftlingen, die von den US-Truppen an die Iraker übergeben würden, dasselbe Schicksal.
  • Bei einem gemeinsamen Militäreinsatz der irakischen und US-Armee sind am 15. September im Zentrum des Irak acht Zivilisten ums Leben gekommen. Unter den Opfern in Falludscha seien auch zwei Frauen und zwei Kinder, teilte die Polizei mit. Außerdem seien ein früherer Oberst, der unter dem gestürzten Machthaber Saddam Hussein diente, sowie drei seiner Cousins getötet worden. Den Angaben zufolge wurden insgesamt fünf Häuser im Viertel Dschubail durchsucht, die Hintergründe des Einsatzes waren allerdings unklar.
  • Im Irak wird am Donnerstag (16. September) die erste deutsche Schule eröffnet. Wie das Auswärtige Amt am 15. September in Berlin mitteilte, sollen an der Bildungseinrichtung im kurdischen Erbil rund 50 Kinder der Jahrgangsstufen Eins bis Fünf unterrichtet werden. Weitere 50 Kinder würden im Kindergarten und in der Vorschule betreut. Die neue Schule ist den Angaben nach eine von mehr als 130 deutschen Auslandsschulen und die erste im Irak seit Schließung der deutschen Schule in Bagdad 1990. Die vom Außenamt geförderte Einrichtung richtet vor allem an Kinder aus kurdischen Familien, die aus Europa zurückkehren. Deutschland hat den Irak laut Ministerium seit 2003 mit rund 400 Millionen Euro in den Bereichen Bildung, Justiz und Menschenrechte unterstützt. Hinzu kam ein Schuldenerlass von 4,8 Milliarden Euro.
  • Bei den blutigsten Anschlägen im Irak seit Abzug der US-Kampftruppen sind am 19. September in Bagdad mindestens 29 Menschen getötet und 111 weitere verletzt worden. In zwei Vierteln der Hauptstadt detonierten nach Angaben des Innenministeriums nahezu zeitgleich mit Sprengstoff beladene Autos. Zudem wurden drei Mörsergranaten auf die hochgesicherte Grüne Zone abgefeuert, in der zahlreiche Regierungsgebäude liegen.
Montag, 20. September, bis Donnerstag, 30. September
  • Der irakische Arm des Terrornetzwerks El Kaida hat sich zu dem Doppelanschlag in Bagdad vom Sonntag (19. September) mit 29 Toten bekannt. Die Gruppierung Islamischer Staat im Irak (ISI) habe sich in islamistischen Internetforen mit der Tat gebrüstet, teilte das auf die Überwachung einschlägiger Websites spezialisierte US-Unternehmen SITE am 24. September mit. Bei dem Anschlag waren in zwei Vierteln im Westen und im Norden der irakischen Hauptstadt zwei Autobomben im Abstand weniger Sekunden explodiert. Es war der blutigste Angriff im Irak seit dem Ende des US-Kampfeinsatzes Ende August.
  • Das wichtigste schiitische Parteienbündnis im Irak hat Nuri el Maliki als ihren Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten bestimmt. Wie ein Parlamentsabgeordneter der Nationalen Allianz am 30. September mitteilte, einigten sich die Mitglieder der Koalition "einstimmig" auf Maliki, der auch derzeitiger Regierungschef ist. Das Bündnis, dem neben Malikis Rechtsstaatsallianz auch die Irakische Nationale Allianz (INA) angehört, kommt auf 159 Sitze, hat damit aber keine Mehrheit unter den 325 Parlamentsabgeordneten.


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