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Kein Ende der Gewalt

Jahresrückblick 2012. Heute: Irak. Weiterhin Instabilität und Machtkämpfe

Von Joachim Guillard *

Das vergangene Jahr hat im Irak begonnen wie das vorhergehende endete: mit Anschlagserien, Massenverhaftungen, Folter und Exekutionen. Insgesamt wurden im Januar 2012 über 560 politische Gewaltakte registriert. Dies sich setze sich über das Jahr fort und erreichte im Sommer seinen Höhepunkt. Mitte Dezember erschütterte erneut eine Serie von Bombenangriffe das Land. Gleichzeitig stehen sich nach Schußwechseln südlich von Kirkuk große Kontingente der irakischen Armee und kurdischer Peschmerga kampfbereit gegenüber. Gefährlich zugespitzt werden die Spannungen hier durch die Absicht des US-Multis Exxon Mobile, nach entsprechenden Abkommen mit der Kurdischen Regionalregierung (KRG) mit ersten Bohrungen zu beginnen – auf Ölfeldern, die zum guten Teil außerhalb des Autonomiegebietes liegen. Der Irak als Ganzes mag nicht im Bürgerkrieg sein, aber einzelne Städte und Regionen sind es wohl, stellte die Frankfurter Rundschau nach einer Anschlagserie im September zu Recht fest.

Offiziell gilt die Lage im Land bereits als beruhigt, da die Gewalt im Vergleich zu den Hochzeiten 2006 bis 2008 deutlich zurückging. Demonstrativ trafen sich Ende März die Arabische Liga zu ihrem Gipfeltreffen in Bagdad und im Mai die »5+1-Gruppe« des UN-Sicherheitsrats zu Verhandlungen mit dem Iran. Sieht man von Meldungen über größere Bombenanschläge ab, ist das geschundene Land seit langem aus den Medien verschwunden, im Fokus stand 2012 mit Syrien der nächste Kandidat für einen gewaltsamen »Regimewechsel«.

Zahlreiche Tote

Dabei ist das Gewaltniveau im Irak keineswegs geringer als im Nachbarland. Das Iraq-Body-Count-Projekt (IBC) registrierte bis Ende November 4348 zivile Opfer. Mit durchschnittlich 395 pro Monat bedeutet dies eine Zunahme von 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. IBC kann erfahrungsgemäß jedoch nur einen Teil der Getöteten erfassen. Da es zudem nur die als zivil eingestuften Toten zählt, dürfte die Gesamtzahl mehr als das Vierfache betragen und höher als die Zahl der Opfer in Syrien sein.

Der leichte Anstieg 2012 wird im Westen natürlich gerne als Folge des Abzugs der US-Truppen Ende letzten Jahres dargestellt. Tatsächlich sind sie jedoch auf eine Verschärfung der Machtkämpfe im Land und das Übergreifen des syrischen Bürgerkrieges auf den Irak zurückzuführen. Die irakische Regierung und westliche Medien ordnen alle bewaffneten regierungsfeindlichen Aktionen Al-Qaida-nahen Organisationen zu. In der Tat dürften viele auf das Konto dieser wiedererstarkten Gruppierungen gehen. Oft vermuten Iraker jedoch auch regierungsnahe Kräfte hinter Gewaltakten, weshalb es nach Anschlägen auf Zivilisten häufig zu wütenden Angriffen auf Sicherheitskräfte kommt.

Premierminister Nouri Al-Maliki hat auch 2012 seine Machtbasis weiter ausgebaut. Nach wie vor hält er mit den Ministerien für Militär, Inneres und Nationale Sicherheit auch die drei machtpolitisch wichtigsten in seiner Hand und besetzte im laufenden Jahr weitere Schlüsselstellen bei Polizei, Geheimdiensten und Militär mit seinen Leuten. Auch den Obersten Gerichtshof und die Oberste Wahlkommission konnte er sich unterordnen.

Repression

Die Kontrolle über den Repressionsapparat wird von Maliki massiv zum flächendeckenden Kampf gegen seine Gegner genutzt. Allein im Oktober meldeten irakische Menschenrechtsgruppen 161 Großrazzien gegen politische Gegner und 1435 willkürliche Festnahmen. Für viele Gefangene folgen, wie auch Amnesty International und Human Rights Watch berichten, Folter, Isolationshaft, erpreßte Geständnisse und unfaire Gerichtsverfahren. Betroffen sind alle Opponenten und Rivalen – inklusive Abgeordnete, Bürgermeister und Mitglieder von Provinzregierungen, die gegnerischen Parteien angehören. Jüngstes Beispiel dafür ist der Überfall von Malikis Sicherheitskräften auf Büros des Finanzministers Rafia Al-Issawi, bei der nach dessen Angaben 150 seiner Sicherheitsleute und Angestellten festgenommen wurden.

Wirtschaft und Infrastruktur des Landes sind nach wie vor in einem desolaten Zustand. Die Öl-Produktion konnte zwar im Laufe des Jahres gesteigert werden, die eigentlich vorgesehene Kapazitätssteigerung wurde jedoch erneut verfehlt. Immerhin lag der Export mit 2,6 Millionen Barrel pro Tag zum ersten Mal über dem Vorkriegsniveau und bescherte dem Staat Rekordeinnahmen von rund hundert Milliarden Dollar.

Trotz dieser enormen Einnahmen änderte sich an den Lebensbedingungen der Iraker wenig. Nach wie vor sind weite Teile der Bevölkerung von der Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung ausgeschlossen. Immer noch produziert das Land nur gut ein Drittel des Bedarfs an elektrischer Energie. Die Arbeitslosigkeit fiel offiziell unter 16 Prozent. Laut einem Bericht der UNDP vom Mai gehen jedoch nur 34 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung einer Erwerbstätigkeit nach. Sieben Millionen Iraker, knapp ein Viertel, leben nach offiziellen Zahlen in absoluter Armut. Im Juni veröffentlichte UNICEF Statistiken, die den Irak als einen der schlechtesten Plätze für Kinder auf der Welt ausweisen. Rund 3,5 Millionen Kinder leben demnach in Armut, 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt, und drei Millionen Kinder sind ohne adäquate Gesundheitsversorgung – 100 von ihnen sterben jeden Tag.

Auch wenn der Einfluß des Irans in weiten Bereichen dominiert, haben die USA auch nach dem Abzug ihrer regulären Truppen noch einen Fuß im Land. Maliki ist weiterhin auf die militärische Unterstützung der nun im Schatten agierenden Besatzer angewiesen. Sie liefern das Gros der Waffen und Ausrüstung für Armee und Sicherheitskräfte und unterstützen diese im Kampf gegen die Gegner seines Regimes. Ihr sichtbares Machtzentrum, die gigantische Botschaftsfestung im Zentrum von Bagdad, wird gerade für hundert Millionen Dollar weiter ausgebaut. Bereits jetzt dirigiert es über 16000 Angestellte, 8400 davon stellt das Pentagon. Die meisten wurden über Privatunternehmen angeheuert, ein großer Teil davon sind also Söldner. Daneben operiert mit Sicherheit auch weiterhin eine große Zahl von US-Spezialeinheiten im Land. Irakischen und iranischen Medien zufolge sind Anfang Dezember zudem 3000 US-Soldaten klammheimlich in kleinen Trupps auf Basen im Irak zurückgekehrt – das Gros auf die Garnison Balad und auf die Luftwaffenbasis Al-Asad in Anbar.

Kampf um Öl

Ebenfalls erheblich an Einfluß gewannen die großen Rohstoff-Multis, in deren Taschen ein wachsender Anteil der Einnahmen aus den Öl-Exporten fließt. Sie hatten statt der anvisierten Produktionsbeteiligungen nur Serviceaufträge bekommen, mit einer für sie mageren Entlohnung. Infolge der Inkompetenz und ungeheuren Korruption in den Ministerien und der Verwaltung kommen sie aber durchaus auf weit mehr als auf ihre Kosten. Sie bekommen ihr Geld ohne echte Kontrolle über erbrachte Leistungen und können völlig überzogene Aufwandsentschädigungen einfordern.

Einige Konzerne wie ExxonMobil und Total hingegen haben sich umorientiert und Verträge mit der Kurdischen Regionalregierung abgeschlossen. Sie stellen damit zwar ihre Milliardenaufträge im Süden zur Disposition, erhalten dafür aber die Konditionen, die sie anstreben. Drei der sechs Ölfelder, auf denen Exxon nun nach Öl bohren will, liegen allerdings nicht in der Kurdischen Autonomen Region, sondern in einem bis zu hundert Kilometer breiten Streifen südlich davon, den die Peschmerga-Verbände der beiden Kurdenparteien PUK und KDP zusätzlich unter ihre Kontrolle bringen konnten. Chevron folgte mit einem Ölfeld in Ninive.

Die Zentralregierung hält ohnehin alle von der KRG abgeschlossenen Verträge für illegal und hat den Zugriff auf Ressourcen außerhalb des Autonomiegebietes zur roten Linie erklärt. Exxon & Co. vertrauen offensichtlich darauf daß die USA und die Peschmerga-Verbände, die mit westlicher und israelischer Hilfe zu einer starken Armee umgewandelt wurden, ihre Investitionen schützen können.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 03. Januar 2013


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