Ein Paar Schuhe als "Abschiedskuß"
2008 im Rückblick: Irak. Die Besatzer reden von positiver Entwicklung. Die Wirklichkeit sieht anders aus
Von Joachim Guillard *
Einen überraschenden, zugleich dramatischen Showdown erlebte der
besetzte Irak wenige Wochen vor Jahresende. Der scheidende US-Präsident
war zu einem letzten Auftritt in die Hochsicherheitszone von Bagdad
geflogen, um in einer hastig anberaumten Pressekonferenz den Fortschritt
zu preisen, den er und seine Truppen dem Land im Laufe der letzten Jahre
gebracht hätten. Doch zerstörten ein Paar Schuhe gründlich die Illusion,
die er und die irakische Regierung verbreiten wollten.
Bedeutender als der tätliche Angriff mit den Schuhen, dem höchsten
Ausdruck der Verachtung in der arabischen Welt, waren die Worte, die der
mutige Journalist Muntader Al-Saidi dem obersten Kriegsherr der
Besatzungsmacht entgegenschleuderte. Meist wird nur der erste Satz –
»das ist der Abschiedskuß, du Hund!« – zitiert. Entscheidend war jedoch
der zweite: »Das ist von den Witwen, den Waisen und all denen, die im
Irak getötet wurden!«.
Dieser Schrei elektrisierte – zusammen mit der öffentlichen Demütigung
des meistgehaßten Mannes – Millionen Iraker und Araber. Durch eine
riesige Welle der Zustimmung und der Solidarität wurde eine einfache,
individuelle Aktion zum weltweit vernommenen Aufbegehren einer
gepeinigten Nation. Indem sie offensichtlich den Zorn der Mehrheit zum
Ausdruck brachten, wurde mit den Würfen des Journalisten der Schleier
aus Scheinheiligkeit und Schönfärberei zerrissen, den die von den USA
dominierten internationalen Medien über den Irak gelegt haben. Sie
zeigten der Welt, daß der Kaiser nackt ist.
Dabei hatten nicht nur die US-Regierung, sondern auch die meisten
westlichen Medien 2008 durchgängig ein sehr rosiges Bild von der
Entwicklung im Irak gezeichnet. Die 2007 begonnene Strategie hätte
Früchte getragen, die als »Surge« bezeichnete Truppenerhöhung und
Ausweitung der Militäroperationen, habe gewirkt. Auch die irakische
Regierung scheint westlichen Beobachtern zufolge zunehmend Herr der Lage.
Am Boden
Die Realität sieht jedoch anders aus. Durch das Land ziehen sich neue
Spuren der Zerstörung, und auch nach fast sechs Jahren »Wiederaufbau«
liegen das Gesundheitssystem wie die Strom- und Wasserversorgung am
Boden. In der Folge nahm – unbeachtet vom Westen – die Cholera im Herbst
wieder epidemische Ausmaße an. Ein vertraulicher Untersuchungsbericht
der US-Regierung, der der New York Times (14.12.) zugespielt wurde,
bestätigt, was jeder Iraker am eigenen Leib spürt: Die 120 Milliarden
Dollar, die offiziell bis Mitte 2008 in den Wiederaufbau des Irak
gepumpt worden waren – der Großteil davon irakisches Geld – sind nahezu
wirkungslos verpufft. Erfolgsmeldungen des Pentagons, so der Bericht,
waren oft schlicht erlogen.
Die Gewalt ging zwar im Vergleich zu 2006 und der Hochphase der »Surge«
zurück. Nach wie vor aber ist der Irak eines der für Leib und Leben
gefährlichsten Länder der Welt. Die knapp fünf Millionen Flüchtlinge
sehen jedenfalls noch keine akzeptablen Bedingungen für ihre Rückkehr.
Die USA und ihre Verbündeten führen weiter offen und verdeckt Krieg
gegen alle, die sich ihren Plänen für das ölreiche Land widersetzen.
Schauplätze waren zu Beginn des Jahres vor allem Basra und das riesige
Bagdader Armenviertel Sadr City, später die nördlichen Provinzen um
Mosul und Baquba. Um die eigenen Verluste zu minimieren setzten die USA
dabei immer mehr auf Angriffe aus der Luft und überließen die
Bodenkämpfe überwiegend den irakischen Hilfstruppen.
Besatzungsvertrag
Nach dem Abschluß eines Truppenstationierungsabkommens zwischen den USA
und dem okkupierten Land scheinen die Tage der Besatzung nun gezählt.
Dem Wortlaut dieses Vertrages zufolge müssen die USA bis Juni 2009 alle
Kampftruppen aus irakischen Städten und bis Ende 2011 ihre gesamten
Truppen aus dem Irak abgezogen haben. Dies würde praktisch das Scheitern
der Pläne Washingtons bedeuten, durch dauerhafte Stationierung eigener
Truppen den direkten Zugriff auf das irakische Öl abzusichern und die
Vorherrschaft über die gesamte Region durchzusetzen.
Die US-Regierung hat jedoch nie ernsthaft daran gedacht, ihr Vorhaben,
das bereits mehr als 600 Milliarden Dollar verschlang, einfach
aufzugeben. Der Pakt bedeutet für sie zunächst eine explizite
Autorisierung zur Verlängerung der Besatzung um weitere drei Jahre. Er
bietet genügend Interpretationsspielraum und kann auch jederzeit
erweitert werden. So denken die US-Kommandeure keinesfalls daran, nun
ihre Kampftruppen in den Kasernen zu lassen. Sie sollen, wie die New
York Times (4.12.) berichtete, auch nach Juni 2009 militärische
Operationen durchführen, jedoch umetikettiert in »Trainings- und
Unterstützungstruppen«. Probleme mit der irakischen Regierung erwarten
sie dabei zu Recht keine. Auch diese bleibt auf die militärische
Unterstützung der Besatzer angewiesen.
Die Pläne der Militärführung sehen zudem den Verbleib von bis zu 70000
Soldaten auch noch lange nach 2011 vor. Pentagonchef Robert Gates beruft
sich dabei auf eine breite überparteiliche Allianz im Kongreß, die
ebenfalls eine langfristige Stationierung von mindestens 40000 Mann
anstrebt. Mit Ausnahme von Vietnam, so Gates, wäre schließlich jeder
US-Militäroperation seit 1945 eine jahrzehntelange Präsenz von
US-Truppen gefolgt. Dies entspricht offensichtlich auch den Absichten
seines zukünftigen Chefs, Barack Obama, der bei der Vorstellung seines
»nationalen Sicherheitsteams« ebenfalls die Notwendigkeit einer
»Rest-Streitmacht« betonte.
Während die Militärführung nur sehr vorsichtige Truppenreduzierungen
vornehmen möchte, strebt Obama einen raschen Abzug mehrerer Divisionen
an. Er möchte mit ihnen die Stärke der US-Truppen in Afghanistan auf
60000 verdoppeln. Hier dürfte er jedoch die Rechnung ohne den Wirt
machen. Die USA haben das Land keineswegs durch ihre Truppenerhöhung und
neue Aufstandsbekämpfungsmethoden in den Griff bekommen. Die Aktivitäten
des nationalen, bewaffneten Widerstands gingen zwar zurück, besiegt ist
er jedoch keinesfalls. Viele Gruppen halten sich bis zum Ende der
US-Offensive nur etwas zurück. Selbst der frühere Oberkommandierende im
Irak und Architekt der neuen Besatzungsstrategie, General David
Petraeus, bezeichnete bei seinem Abschied die Situation als nach wie vor
sehr fragil. Nicht ohne Grund sind immer noch weit mehr Soldaten und
private Söldner im Irak als vor der »Surge«.
Hinter der Fassade
Auch auf politischer Ebene wird der Gegenwind immer schärfer. Getragen
von einer massiven Grundstimmung in der Bevölkerung, die – über
Konfessionsgrenzen hinweg – offensichtlich die Nase gründlich voll hat
von der Besatzung, sektiererischer Politik und religiösem Extremismus,
entstanden außerhalb und innerhalb der von den Besatzern geschaffenen
Institutionen breite nationale Bündnisse, die alle wesentlichen
Vorhaben, wie das neue Ölgesetz, erfolgreich blockieren. Selbst der
irakische Premier trägt dieser Stimmung Rechnung, wie sich unter anderem
in den Abkommen über das Stationierungsabkommen zeigte. Es besteht für
Washington aktuell kaum Aussicht, hier voranzukommen, ohne die mühsam
errichtete Fassade eines souveränen, demokratischen Staates zu zerstören.
Die politischen Erfolge wecken bei vielen Irakern die Hoffnung, daß das
Besatzungsregime auch mit politischen Mitteln überwunden werden kann.
Sobald jedoch klar wird, daß die USA nicht die Absicht haben, ihre Pläne
für das Land aufzugeben und abzuziehen, wird der Widerstand auf noch
breiterer Basis aufflammen. Im Gegensatz zu westlichen Experten machen
sich irakische und arabische Analysten daher wenig Gedanken um das
Stationierungsabkommen und die Diskussionen in Washington. Die USA
werden ihre Truppen nicht wegen irgendwelcher Abkommen abziehen, so ihre
Überzeugung, sondern dann, wenn sie sich im Land nicht mehr halten
können. Oder wenn die US-Bevölkerung nicht länger bereit ist, die Kosten
zu tragen.
* Aus: junge Welt, 29. Dezember 2008
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