Die Neue Zürcher Zeitung brachte am 03.07.2000 einen interessanten Hintergrundartikel über die nach wie krisenhafte Wirtschaftslage im Vielvölkerstaat Indonesien. Bitterste Armut breiter Volksschichten kontrastiert mit dem Reichtum der Profiteure des alten Suharto-Regimes. Deren Clan dürfte einen großen Teil seines Vermögens im Ausland sicher angelegt haben. Wie viel davon für den Staat zu retten sein wird, muss der Korruptionsprozess gegen den Ex-Diktator Suharto, der im August 2000 beginnt, erst noch zeigen. Wir dokumentieren den Artikel aus der NZZ:
rt. Jakarta, Mitte Juni
Rein äusserlich ist in Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens, nach den
vielen von Gewalt begleiteten Unruhen wieder eine Art Normalität
eingekehrt, bei der jeder, so gut es eben geht, seinen Geschäften
nachgeht. Abgesehen von ein paar Dutzend Studenten, die fast täglich
dafür demonstrieren, dass der ehemalige Präsident Suharto, der an
Gedächtnisschwund leidet, vor Gericht gezerrt wird, ist es in der
Metropole am Tag ruhig. Kürzlich wurde sogar wieder eine Miss
Indonesia gewählt, nachdem der Wettbewerb der Schönen in den letzten
drei Jahren aus Rücksicht auf die desolate Wirtschaftslage ausgesetzt
worden war. Die verhohlene oder gar offene Feindseligkeit, die man dem
Ausländer noch vor einem halben Jahr entgegenbrachte, als Osttimor -
so die Sicht vieler Indonesier damals - unter westlicher Führung
Indonesien «entrissen» wurde, hat wieder in anmutige Herzlichkeit
umgeschlagen. Kurz, man kann sich in der quirligen Hauptstadt wieder
locker und frei bewegen.
Noch keine Stadt für den Reiseprospekt
In den Reiseprospekt passt die Stadt aber noch nicht. Und dies nicht nur weil an der Peripherie des riesigen Landes eine Provinz nach der anderen nach Unabhängigkeit strebt. Auch in anderer Beziehung brodelt es unter der Oberfläche. Es sind erschütternde Details, die dem Besucher zeigen, dass die wirtschaftliche Misere in der 10-Millionen-Stadt keineswegs überwunden ist. Was sich in der Statistik als «Nullwachstum» liest - das heisst ein Verharren auf dem Boden der Rezession, die man Asienkrise nennt -, findet seinen Ausdruck unter anderem in jungen und alten Menschen, die an Strassenkreuzungen Tag und Nacht ausharren, um ein paar Münzen zu ergattern. An Bushaltestellen reiht sich ein übermüdetes und verzweifelt wirkendes Gesicht an das andere. Im Schatten eines hochmodernen Bürogebäudes laust sich eine Familie. Auf Fussgängerbrücken werden Ramsch und Raub-CD angeboten. Und im Pasaraia, einem Shopping Center der Stadt, sind die Abteilungen, wo Markenartikel angeboten werden, gähnend leer. Produkte, die angeblich den neusten Trend in der Welt der Düfte verkörpern und dem Besucher verführerisch unter die Nase gerieben werden, kosten rund einen durchschnittlichen Monatslohn.
Das sind, nimmt man den Lohn eines Fabrikarbeiters zum Massstab, 280 000 Rupiah oder 55 Franken. Wem dies als zu wenig erscheint, der hat einen kleinen Trost - es geht offenbar wieder langsam aufwärts: 1998 waren es noch 230 000 Rupiah gewesen. Zudem sollen im vergangenen Jahr 15 der 92 Millionen Indonesier, die unterhalb der Armutsgrenze gelebt hatten, die Marke überwunden haben. Sie liegt, je nach Quelle (Regierung oder Uno), bei 77 386 Rupiah oder 97 074 Rupiah, also bei rund 20 Franken pro Monat, womit etwa 2100 Kalorien pro Tag eingekauft werden können. (Ein festes Dach über dem Kopf gehört in Indonesien nicht zum Existenzminimum.) Wie verbreitet die Armut noch ist, geht auch aus Aktivitäten des World Food Programme hervor: insgesamt 5,2 Millionen Menschen in den drei grössten Städten auf Java, nämlich Jakarta, Semarang und Surabaya, werden täglich mit verbilligtem Reis versorgt. Unicef schätzt, dass in den städtischen Gebieten der bevölkerungsreichsten Insel, Java, 40 Prozent der Kinder unter zwei Jahren unterernährt sind, und stellt zunehmend Krankheiten fest, die normalerweise in Hungergebieten Afrikas auftauchen.
Zu den erschreckenden Bildern in Jakarta gehören auch Formen der Selbstjustiz. Fälle, in denen kleine Banditen und Taschendiebe von Bewohnern eines Quartiers gestellt und ermordet werden, gehören praktisch zu Tagesordnung. Fünf Gauner, die versuchten, die Fahrgäste eines städtischen Buses auszurauben, wurden von einer Meute in die Flucht getrieben, verfolgt, gefasst, mit Benzin übergossen und angezündet. Die Polizei fand nur noch die fünf verkohlten Leichen vor. Laut einem entsprechenden Bericht der «Jakarta Post» ist die wachsende Zahl solcher Abrechnungen auf das schwindende Vertrauen in die Justiz zurückzuführen.
Drei Jahre nach dem Ausbruch der Asienkrise, die in Singapur, Bangkok
und Kuala Lumpur als praktisch überwunden gilt, steht die Regierung
von Abdurrahman Wahid unverändert vor einer Herkulesaufgabe: Wie
können in dem Land, wo grosse Teile der Bevölkerung in der ersten
Hälfte der neunziger Jahre in Reichweite von Luxusartikeln gekommen
sind, angesichts der verbreiteten Armut soziale Unruhen verhindert
werden. Zu Beginn von Wahids Amtszeit, Ende letzten Jahres, konnte die
Euphorie über die fortschreitende Demokratisierung des Landes die
wirtschaftliche Not noch überdecken. Und es wurden Hoffnungen geweckt,
dass Demokratie ein Vehikel für eine gerechtere Einkommensverteilung
sei. Inzwischen hat sich aber in der Bevölkerung wieder Resignation
breit gemacht. Der Verteilungskampf nimmt zu, und praktisch jeder
Regierungsbeschluss, der Auswirkungen auf die Einkommen hat, führt zu
Streikdrohungen. So legten kürzlich Busfahrer die Stadt lahm, Schulen
schlossen, weil die Lehrer auf die Strasse gingen und höhere Löhne
forderten, und Becak-Fahrer blockierten die Strassen Jakartas, weil
sie laut Beschluss des Stadtgouverneurs mit ihren lärmigen Dreirädern,
die typisch für das Strassenbild in Indonesien sind, von den
Hauptverkehrsadern verbannt werden sollten. In zahlreichen
internationalen Firmen häufen sich zudem Streiks.
Nächtliche Razzien der Fundamentalisten
Die Regierung Wahid versucht, das latente Konfliktpotenzial zum Teil mit populistischen Massnahmen abzubauen. So verfügte sie zum Beispiel einen Einfuhrstopp für Luxuslimousinen für über 40 000 Dollar (der nach wenigen Tagen wieder rückgängig gemacht wurde), weil durch solche Autos die Bevölkerung nur unnötig provoziert werde. Sie zögert - wie im IMF-Programm vorgesehen -, Subventionen für Reis und Treibstoff zu streichen, weil dies wieder Massendemonstrationen provoziert, die in unberechenbare politische Unruhen ausarten können. Sie bewegt sich auf einem Reformkurs, dessen Erfolg keineswegs garantiert ist und der einer Gratwanderung gleicht: Durch den Regierungs- und Präsidentenwechsel sind nämlich nicht nur unrealistische Vorstellungen geweckt worden; die neue Freiheit, für und gegen alles auf die Strasse zu gehen, stellt auch die Demokratie auf die Probe.
Wie stark es unter der Oberfläche brodelt, die man als neue Normalität
in Jakarta wahrnimmt, ist auch an Feldzügen muslimischer
Fundamentalisten gegen Nachtlokale und Spielhöllen erkennbar. Zu
Gewalt kommt es dabei selten. Der stille, gespenstisch wirkende
Aufmarsch der ganz in weiss gekleideten Verteidiger des Islams, die
auf Lastwagen herangefahren werden, genügt in der Regel, dass die
Musik verstummt, die Lichter ausgehen und Türen verriegelt werden.
Jakarta ist zwar weit von Zuständen wie in Bangkok und Manila
entfernt; aber in Indonesien gibt es eben - im Gegensatz zu Thailand
und den Philippinen - militante religiöse Kräfte, die dem nächtlichen
Treiben Einhalt gebieten wollen, das letztlich auch eine Folge der
unverändert hohen Armut ist.
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