Die "Scharia" und das säkulare Indonesien
Aus dem "Lexikon" der Zeitschrift "Indonesien-Information"
Den nachfolgenden Beitrag haben wir dem Heft 1/2003 der Indonesien-Information entnommen. (Über die Zeitschrift siehe am Ende des Artikels)
Scharia (Sari'a)
Von E. A. Tyastuti und Wolfram Lorenz
Immer öfter wird von muslimischer Seite die Forderung nach Einführung der Scharia
als Rechtsgrundlage in der Gesellschaft gefordert. Was aber ist mit Scharia
gemeint? Gleich vorab - es gibt keine einfache und allgemein gleich akzeptierte
Definition. Hier soll nur versucht werden, einen Anstoß zum besseren Verständnis
islamischer Rechtsvorstellungen zu geben.
Ganz allgemein ist mit Scharia das islamische Recht gemeint. Anders als nach
europäischem Rechtsverständnis, regelt die Scharia jedoch mehr als nur reine
Rechtsfragen. Sie regelt einerseits die Beziehungen des Zusammenlebens zwischen
den Menschen und die Beziehungen der Menschen zu Gott. Sie bietet Vorschriften
für kulturelle Normen, Ethik und für das soziale Zusammenleben der Gemeinschaft
insgesamt. Die Scharia bezieht ihre Quellen aus dem Koran, der Sunna, den
Traditionen der islamischen Rechtsprechung, dem Konsens bzw. der
selbstständigen Rechtsfindung durch Gelehrte und aus vorislamischen Traditionen.
Im wortwörtlichen Sinne bedeutet Scharia etwa soviel, wie "der Weg zur
lebenswichtigen Wasserquelle" oder "der gerade Weg". Damit handelt es sich bei der
Scharia um den Weg, den Allah in seiner Offenbarung an seinen Propheten
Mohammed den Menschen zeigte [Bassam Tibi 1996:191], also Richtlinien, an die
sich die Gläubigen in ihrem Leben halten sollen. Mit Richtlinien sind in erster Linie
Vorschriften und Gebote gemeint. Deshalb überwiegen im Islam auch die Pflichten -
Rechte existieren in dem Sinne nicht. Es geht dabei im wesentlichen darum, zu
bestimmen, was auf einem dem Islam folgenden Lebensweg "richtig" bzw. "erlaubt"
(halal) und was "falsch" bzw. "verboten" (haram) ist.
Alle Handlungen werden in fünf Kategorien eingeteilt: obligatorisch, empfohlen,
gleichgültig, unerwünscht und verboten. So ist die Waschung vor dem Gebet
obligatorisch, dabei mit der rechten Seite zu beginnen ist empfohlen, kaltes oder
warmes Wasser dafür zu benutzen ist gleichgültig, und dass jemand das Wasser
vorher berührt, ist verboten [Goldammer, Die Religionen der Menschheit, 1991:520].
Die Scharia ist einerseits ein "göttliches Produkt", basierend auf den Offenbarungen,
andererseits ist sie ein Produkt, beruhend auf Deutungen und Interpretationen von
Gefährten Mohammeds und Gelehrten. Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen in
bezug auf die Entscheidungsfindung, haben sich im Laufe der Zeit vier verschiedene
Rechtsschulen entwickelt. Diese sind, den Namen ihrer jeweiligen Vertreter
entsprechend, die Malikiten, die Schafiiten, die Hanbaliten und die Hanafiten, die
regional recht unterschiedliche Verbreitung gefunden haben. Diese Rechtsschulen
sind nur für ihre jeweiligen Anhänger gültig. Es gibt also kein für die Gesamtheit der
muslimischen Gemeinschaft (umma) einheitlich geltendes Recht. Es hat nie einen
Versuch zur Vereinigung dieser Rechtsschulen gegeben, allerdings sind die
Unterschiede zwischen ihnen auch nicht besonders groß.
Es ist wichtig zu wissen, dass der Rechtsfindungsprozess in der Hand der
islamischen Rechtsgelehrten (ulema) liegt, und nicht in der Hand von
unabhängigen Gerichten [Esposito, What is Islamic Law? 2002], und dass die
Scharia sich nicht auf ein Staatswesen (daula), sondern auf die Gemeinschaft der
Muslime (umma) bezieht. Das politische Oberhaupt ist im Islam gleichzeitig auch
das religiöse Oberhaupt. Das macht den Aufbau eines modernen Staatswesens auf
der Grundlage des islamischen Rechts praktisch unmöglich. Deshalb haben viele
Staaten im 20. Jh. im Rahmen der Dekolonisierung versucht, neben dem islamischen
Recht, westliche Rechtssysteme zu implementieren. Gegenwärtig erleben wir
allerdings weltweit zunehmende Forderungen nach der Ablösung westlichen Rechts,
um an dessen Stelle die Scharia einzusetzen. Dies kann als Ausdruck von
Unzufriedenheit mit dem säkularen positiven Recht gewertet werden.
Im säkularen Indonesien, ist die Diskussion über die Scharia wieder entfacht worden,
als der Führer der Laskar Jihad, Ja'far Umar Thalib, Anfang 2001 ein Mitglied seiner
militanten Bewegung wegen Ehebruchs zu Tode steinigen ließ. Doch die Diskussion
um die Scharia ist nicht neu in Indonesien. Schon 1945 beim Entwurf des
Staatskonzeptes für ein unabhängiges Indonesien durch die Führer der nationalen
Unabhängigkeitsbewegung war sie ein außerordentlich wichtiges Thema. Islamische
Kräfte, die einen wesentlichen Anteil am Erfolg der nationalen
Unabhängigkeitsbewegung gegen die holländische Kolonialmacht hatten, erwarteten
die Gründung eines islamischen Staates. Angesichts einer starken
säkular-nationalistischen Fraktion im Vorbereitungskomitee für die Unabhängigkeit,
ließ sich nur ein Kompromiss erreichen. Dieser zeichnete sich mit der so genannten
Piagam Jakarta ab, der Präambel zur Verfassung. Darin gab es unter anderem einen
Passus, der die Muslime in Indonesien auf die Scharia verpflichtete. Dieser Passus
wurde jedoch nur wenige Stunden vor der Verabschiedung der Verfassung gestrichen
[Anshari, Piagam Jakarta 22 Juni 1945, Jakarta 1997]. Eine schwere Enttäuschung
für die Anhänger der Scharia, die damals zwar zahlenmäßig eine nur sehr kleine,
aber einflussreiche Gruppe bildeten.
Diejenigen, die sich mit dieser Streichung nicht abfinden wollten, gingen dazu über,
den jungen Nationalstaat zu bekämpfen (zum Beispiel in Zusammenhang mit der
Darul Islam- (Haus des Islam-) Bewegung). Von orthodoxer islamischer Seite wird die
Formulierung der ursprünglichen Form der Piagam Jakarta als Schlüssel für die
Errichtung eines islamischen indonesischen Staates angesehen und deshalb
propagieren sie unermüdlich den ursprünglichen Präambelentwurf, der die Muslime
an die Scharia band. Ende der 50er Jahre berief sich sogar die Regierung, in bezug
auf eine Anfrage zur Piagam Jakarta hinsichtlich eherechtlicher Fragen, auf diese
ursprüngliche Version. Allerdings konnte sich diese Auffassung letztendlich nicht
durchsetzen [Hanstein, Islamisches Recht und Nationales Recht, Frankfurt am Main
2002:102].
Wenngleich die Scharia nicht mehr in der Verfassung erwähnt wird, so gehören doch
Teile der Scharia, die das Familienrecht regeln, wie das Eherecht und das Erbrecht,
durchaus zur gängigen Rechtspraxis Indonesiens. So steht es zum Beispiel einem
Muslim frei, ob sein Erbe eines Tages nach positiven Recht (durch staatliche
Rechtsinstitutionen) oder nach islamischem Recht (durch religiöse
Rechtsinstitutionen) geregelt werden soll. Letzterer Wunsch muss lediglich
rechtzeitig vor seinem Tod einem staatlichen Notariat kundgegeben werden. In
Indonesien existieren staatliche und religiöse Rechtsinstitutionen (nicht nur
muslimische) nebeneinander, was in erster Linie auf das Wirken des weit gehend
muslimisch dominierten Religionsministeriums zurückzuführen ist.
Die Existenz von nebeneinander bestehenden staatlichen und religiösen
Rechtsinstitutionen hat sich bisher als unproblematisch erwiesen, kann man doch so
den religiösen Bedürfnissen der Bevölkerung besser gerecht werden. Als kritisch
anzusehen ist jedoch die zunehmende Kodifizierung von islamischem Recht in
positives nationales Recht. Auch über die Integration der Scharia in die Verfassung,
verbindlich für die gesamte Bevölkerung, wird seit einiger Zeit wieder laut
nachgedacht. Die Beratende Volksversammlung (MPR) lehnte das Ansinnen
allerdings im letzten Jahr mit großer Mehrheit ab und auch die beiden größten
islamischen Massenvereinigungen Nahtlatul Ulama und Muhammadiyah hatten sich
dagegen ausgesprochen.
Die nach Unabhängigkeit strebende Provinz Aceh hat 2001 unter der Präsidentschaft
von Gus Dur das Recht zugesprochen bekommen, die Scharia anzuwenden. Das im
Januar 2002 in Kraft getretene Autonomiegesetz für die Provinz, die sich seither
Nanggroe Aceh Darussalam nennt, verbriefte dieses Recht. Kürzlich wurden die
ersten Scharia-Gerichte vereidigt. Auf welche Bereiche der Rechtsprechung sich die
Zuständigkeit dieser Gerichte erstrecken wird, ist allerdings noch immer nicht
eindeutig geklärt. Gouverneur Abdullah Puteh versuchte zu beschwichtigen. "The
Islamic law will be implemented gradually and in a moderate way. (…) We guarantee
that the implementation of Islamic sharia will not infringe on human rights and gender
issues, and non-Muslims can practice their religion and their daily activities as
usual," erklärte er bei der Vereidigungszeremonie der Scharia-Richter [Jakarta Post,
5.3.03].
Andere Provinzen, wie zum Beispiel Südsulawesi (Sulsel), fordern nun für sich
ebenfalls die Implementierung der Scharia ein. Diese Forderungen finden allerdings
sowohl unter Gelehrten als auch in der Bevölkerung bisher eher ein kontroverses
Echo. Die Masse der Muslime folgt nämlich eher einem säkularen und
synkretistischen Islam. Nicht zu vergessen, dass Indonesien ein Vielvölkerstaat ist,
der im Falle eines religiösen Kräftemessens unweigerlich auseinander brechen wird.
So haben Provinzen, wie das christlich dominierte Nordsulawesi (Sulut), während der
Diskussion über Verfassungsänderungen im Jahre 2001 bereits angedroht aus dem
Einheitsstaat auszuscheren, sollte die Scharia Teil der Staatsgrundlage werden
[Bernas, Piagam Jakarta Masuk, Sulut Merdeka, 13.9.01]. Es besteht die wohl nicht
unberechtigte Befürchtung, dass die Installation der Scharia der erste Schritt zur
Errichtung eines islamischen Staates sein wird.
Dieser Beitrag erschien in Indonesien-Information Nr. 1/2003 (Lexikon).
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