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"Tickende Zeitbombe"

Regierung Indonesiens spürt Druck der erwachenden Arbeiterbewegung. Gesetzlicher Mindestlohn soll 2013 um 44 Prozent steigen

Von Raoul Rigault *

Reale Lohnerhöhungen sind in Westeuropa inzwischen eine Seltenheit – Stagnation und oftmals gravierende Einkommenseinbußen die Regel. Ganz anders in Indonesien. Im bevölkerungsmäßig viertgrößten Land der Welt erzwang die noch recht junge Arbeiterbewegung in der Hauptstadt Jakarta und der Provinz Nordsumatra jetzt für 2013 eine 44prozentige Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns in der Privatwirtschaft auf 2,2 Millionen Rupien (228 Dollar) im Monat. Er war, bei einer Inflation von gut fünf Prozent, bereits im laufenden Jahr um zehn Prozent gestiegen. Im Rest des Landes werden die Zuwächse ab 1. Januar durchschnittlich bei 18 Prozent liegen. Nicht überraschend, daß die im Unternehmerverband APINDO und der Industrie- und Handelskammer (-KADIN) zusammengeschlossenen Geschäftsleute dagegen Sturm laufen und behaupten, ein solcher Anstieg der Arbeitskosten werde zahlreiche Betriebe zugrunde richten, ausländische Investoren abschrecken und sofort mindestens zehntausend Jobs vernichten.

Die Regierung laviert indes zwischen beiden Seiten hin und her. Einerseits verkündet Susilo Bambang Yudhoyono, der erste und bislang einzige frei und direkt gewählte Präsident nach dem Ende der Suharto-Diktatur 1998, vollmundig seine Unterstützung für höhere Löhne und ein besseres Wohlfahrtssystem. Die Ära der Billigjobs und der Ungerechtigkeit gegenüber den Arbeitern sei vorbei. Doch gleichzeitig sorgten seine Minister für eine Öffnungsklausel, die weiten Teilen der Wirtschaft auf Antrag ein Einfrieren der Gehälter erlaubt. Binnen weniger Tage haben bereits 130 Unternehmen entsprechende Forderungen erhoben. Parallel dazu will die APINDO die Anhebungen des Mindestlohns auf gerichtlichem Wege stoppen. Schützenhilfe bekommt sie von den Botschaftern Japans und Südkoreas, die scharf gegen die angeblich übermäßige Belastung ihrer Konzerne protestieren. Jakartas Gouverneur verschob daraufhin die Unterzeichnung des Dekrets und verabschiedete sich zu einem Gesundheitscheck nach Deutschland.

Ökonomisch entbehrt die Katastrophenstimmung jeder Grundlage. Das Wirtschaftswachstum der ehemaligen niederländischen Kolonie beträgt seit 2003 im Durchschnitt knapp sechs Prozent. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt wuchs allein von 2008 bis 2011 um zwei Drittel von 2271 auf 3510 US-Dollar. Der Bestand an ausländischen Direktinvestitionen explodierte in den letzten drei Jahren von 109 auf 173 Milliarden Dollar.

Laut führenden Gewerkschaftern »braucht in Jakarta ein Arbeiter einen Mindestlohn von 3,75 Millionen Rupien im Monat, um würdevoll leben zu können«. Für viele bestehe die tägliche Ernährung derzeit aus einer Schüssel Reis mit ein oder zwei Eiern und etwas Hühnerklein. Während das unterste Zehntel der 240 Millionen Einwohner über ganze drei Prozent des Jahresvolkseinkommens verfügen, kommt das oberste Zehntel auf 30 Prozent. Ein wesentlicher Grund dafür ist neben dem mageren Mindestlohn das Unwesen des Outsourcings. Rund die Hälfte der 41 Millionen Beschäftigten des tariflich geregelten Sektors sind davon betroffen. Um Abfindungen, Gesundheitsversorgung, Urlaubsgeld und Rentenbeiträge zu sparen, werden sie über Fremdfirmen angestellt, die sie knapp ein Jahr lang beschäftigen, dann ihr Unternehmen formell schließen und sofort unter neuem Namen wieder eröffnen, um die gleichen Leute erneut einzustellen und zu verleihen. Eine Erpressungspolitik, die angesichts der Tatsache, daß rund 41,4 der 118 Millionen Erwerbsfähigen arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, selbst bei den Bankangestellten funktioniert.

Genau diese Praxis haben nun die Gewerkschaften ebenfalls ins Visier genommen. Am 3. Oktober organisierten die Ende der 90er Jahre nach drei Jahrzehnten brutaler Militärdiktatur aus kleinen Widerstandszirkeln entstandenen Organisationen ihren ersten Generalstreik gegen Hungerlöhne, Auslagerung und Leiharbeit. 2,8 Millionen Fabrikarbeiter in 24 Städten folgten dem Aufruf und trugen ihren Unmut auf die Straße. Dem Unternehmerverband zufolge waren 5000 Betriebe betroffen. Die Produktionsausfälle summierten sich auf eine Billion Rupien. »Das war eine Warnung«, erklärte der Vorsitzende der Indonesischen Metallarbeiterföderation, Said Iqbal.

Die Regierung reagiert bislang mit vagen Absichtserklärungen und dem Versuch, Zeit zu schinden. Daher gingen am 22. November in Jakarta erneut zehntausend Arbeiter auf die Straße. Ähnlich viele zogen am 5. Dezember vor die japanische und südkoreanische Botschaft, auch um gegen die Verfolgung aktiver Gewerkschafter zu protestieren. Nicht selten nehmen solche Aktionen militanten Charakter an und führen zu gewaltsamen Zusammenstößen mit Streikbrechern, privaten Sicherheitsdiensten und der Polizei. Die von dieser erwachenden Arbeiterbewegung für die Herrschenden ausgehende Gefahr hat auch der Staatspräsident erkannt: »Wir müssen für angemessene Gerechtigkeit sorgen, um zu verhindern, daß das zu einer Zeitbombe wird.«

* Aus: junge Welt, Dienstag, 11. Dezember 2012


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