Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die langen Leiden der "Tapols"

Indonesiens Generäle entfesselten vor 40 Jahren einen der schlimmsten Massenmorde des 20. Jahrhunderts

Von Jochen Reinert*

Indonesien 1965: Nach der Niederschlagung eines Putschversuchs linksnationaler Offiziere holen rechte Militärs zu einem Gegenschlag aus, in dessen Verlauf hunderttausende Kommunisten und Nationalisten getötet und Millionen als »Tapols« (indonesisches Kürzel für politische Gefangene) eingekerkert werden. Deren Diskriminierung dauert bis heute an.

Der Berliner Fernsehkorrespondent Ulrich Makosch war gerade 14 Tage in Indonesien, als er am 30. September 1965 bei Dreharbeiten für das DDR-Fernsehen am Zentralstadion von Jakarta Armee- Einheiten beobachtete, die offenbar für eine größere Aktion zusammengezogen wurden. Am Tag danach des Rätsels Lösung: Eine bis dahin unbekannte »Bewegung des 30. September« hatte unter Führung von Oberstleutnant Untung, Chef eines Bataillons der 25 000 Mann starken Leibwache von Präsident Sukarno, sechs Armeegeneräle verhaftet und die Bildung eines Revolutionsrates bekannt gegeben. Untung war aus Makoschs Sicht »ein national gesinnter Offizier, der nicht der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI) angehörte und seinem Präsidenten treu ergeben war«. Nach eigenen Worten wollten er und seine Mitverschworenen aus Luftwaffe und Marine mit ihrer Aktion einem Putsch rechter Generäle gegen Sukarno zuvorkommen.

Eine Gruppe von Heeresoffizieren unter Führung General Suhartos hatte mit ihrem schnell eingeleiteten Gegenputsch relativ leichtes Spiel. Die dilettantisch organisierte Untung-Aktion brach rasch zusammen. Suharto und seine Leute begannen mit äußerster Brutalität, die damalige politische Kräftekonstellation in Indonesien – ein Machtdreieck aus Nationalisten, Kommunisten und Armee – zu ihren Gunsten zu verschieben. Innerhalb kurzer Zeit war der eigentliche Staatsstreich perfekt: Suharto usurpierte den Präsidentensessel und zerschlug die damals mit 3,5 Millionen Mitgliedern drittstärkste KP der Welt.

Ablauf und Hintergründe dieser dramatischen Ereignisse geben bis heute viele Rätsel auf. Makosch glaubt wie andere Beobachter, dass die »Bewegung des 30. September« durchaus aus lauteren Motiven handelte, unklar bleibt allerdings, wer sonst noch seine Hände im Spiel hatte. Der ehemalige Luftwaffenchef Omar Dani, von Suharto 30 Jahre lang gefangen gehalten, ist davon überzeuzeugt, dass die CIA eine maßgebliche Rolle spielte. Auch die Briten, enthüllte der Dokumentarfilm »Shadow Play« des Australiers Chris Hilton, mischten mit. »Ein verfrühter Staatsstreich der PKI wäre die beste Lösung für uns – vorausgesetzt, er scheitert«, hieß es schon im Dezember 1964 in einem Dokument des Londoner Außenministeriums.

Generäle inszenierten "Saison der Hackmesser"

Unmittelbar nach Niederschlagung der Untung-Aktion lancierten die rechten Generäle, es habe sich um einen Putsch der damals eng mit Peking liierten PKI gehandelt. Die PKI-Führung selbst erklärte am 7. Oktober 1965: »Was die Bewegung des 30. September anbelangt, so vertritt das ZK der PKI die Auffassung, dass diese Bewegung eine innere Angelegenheit des Heeres ist und die PKI keinerlei Beziehung zu ihr hat. Durch eine Befragung der Parteimitglieder, die in der Liste des ›Revolutionsrats‹ genannt wurden, hat sich herausgestellt, dass sich niemand an sie gewandt und niemand ihr Einverständnis zur Aufnahme in diese Liste erhalten hat.« Die PKI-Führer, weiß Makosch aus Gesprächen, waren wie gelähmt und sich keinerlei »Schuld« bewusst.

Die meisten Beobachter sind sich heute einig, dass die PKI keine Verantwortung für die Ereignisse am 30. September trug. Sie nahm damals – gestützt auf neun Millionen Wähler – bereits eine komfortable Machtposition im Lande ein: Sukarno hatte das Konzept »Nasakom« (Nationalismus, Religion, Kommunismus) zur Staatsdoktrin erhoben und mehrere KP-Führer zu Ministern gemacht.

Unmittelbar nach der Niederschlagung der Untung-Aktion inszenierten Suhartos Generäle einen grausamen Pogrom, den sie selbst »Musim Parang« (Saison der Hackmesser) nannten. Vor allem in der KP-Hochburg Zentraljava mordeten Armee und paramilitärische Einheiten wahllos. Auch Angehörige der ländlichen Mittelschicht, die sich durch die Agrargesetze Sukarnos bedroht sahen, waren an den Gewaltorgien beteiligt. Allein auf der Urlaubsinsel Bali wurden in zwei Wochen 80 000 Menschen massakriert. Sogar eine CIA-Studie spricht von »einem der schlimmsten Massenmorde des 20. Jahrhunderts«. Indonesische Menschenrechtler schätzen die Zahl der Opfer auf 500 000 bis eine Million. General Sarwo Edhie, einer der Aktivisten der »Saison der Hackmesser«, geht sogar von drei Millionen aus.

Am Anfang der Massaker stand eine gigantische Lüge. Die vom Suharto-Militär gelenkte Presse zeichnete ein grausiges Bild von der Ermordung der sechs gefangenen Generäle durch Untung- Leute: »Kommunistische Weiber mit Messern« hätten die Offiziere gefoltert und zerstückelt. Unter dem Eindruck dieser Propaganda folgten in Jakarta eine Million Menschen der Prozession zur Beisetzung der getöteten Generäle. »Viele von ihnen hatten Tränen in den Augen«, beobachtete Makosch. »Sie glaubten an diese Folterungen, die die religiösen Gefühle der Muslime zutiefst verletzten, denn der Koran sieht vor, dass ein Muslim als Ganzes der Erde übergeben wird, sonst wandere seine Seele ruhelos umher und finde keinen Eingang ins Paradies.« In dieser Manipulation – Obduktionsberichte, die keine Folterbeweise erbrachten, wurden unterdrückt – sieht Makosch »die Ursache für den tiefgreifenden Meinungsumschwung in Indonesien, der bis heute wirkt«.

Wer die Massaker überlebte, verschwand ohne Verfahren für viele Jahre in Gefängnissen oder in riesigen Konzentrationslagern wie auf der Molukken-Insel Buru. Der Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer, von Freunden »Pram« genannt, war einer der Akteure des linken Instituts für Volkskultur. Obwohl nie PKI-Mitglied, wurde er am 13. Oktober 1965 verhaftet, mit Gewehrkolben geschlagen und 14 Jahre ohne Anklage gefangen gehalten, davon 10 Jahre auf Buru, wo tausende »Tapols« Zwangsarbeit leisten mussten. Pram setzte mit seiner Tetralogie »Bücher der Insel Buru« und seinem Band »Stilles Lied eines Stummen« (im Horlemann-Verlag erschienen) den Opfern der »Neuen Ordnung« Suhartos ein literarisches Denkmal.

Eifrige Unterstützer der Todesschwadronen

Wie das USA-Außenministerium 2001 mit seiner Publikation »Foreign Relations of the United States 1964-68« aktenkundig machte, wurde der Massenmord durch einschlägige USA-Dienststellen eifrig unterstützt. So stellte Botschaftsmitarbeiter Robert Martens, »Fachmann für Kommunismus- Fragen«, zwei Jahre lang mit einer Arbeitsgruppe von Diplomaten und Geheimdienstlern Listen von PKI-Mitgliedern zusammen, die der indonesischen Armee übergeben wurden. Von USA-Botschafter Marshall Green wird die Empfehlung dokumentiert, dem Anführer einer armeenahen Todesschwadron, die »die Hauptlast der gegen die PKI gerichteten Maßnahmen, vor allem in Zentraljava trug«, 50 Millionen Rupien zu zahlen.

Washington hatte starkes Interesse an einer reaktionären Wende in Indonesien. Die USA, die gerade eine Allianz für ihren Vietnam-Krieg schmiedeten, brauchten dazu das größte Land der Region, das bis dahin eine Politik der Blockfreiheit verfolgte. »Mit dem Putsch in Indonesien«, sagt Makosch, »haben die USA in Asien einen Krieg von vietnamesischen Ausmaßen gewonnen, ohne einen einzigen Soldaten zu verlieren.« In der Tat erwies sich Suharto-Indonesien drei Jahrzehnte lang als williger Vollstrecker der USA. Es marschierte in Vietnam mit und besetzte Osttimor. Nach Zerschlagung der KP und ihrer Massenorganisationen existiert bis heute keine linke Kraft von Gewicht.

Während der Suharto-Diktatur wurden nach Angaben von Uli Panulian Sihombing, Vorsitzender der Jakartaer Menschenrechtsorganisation Legal Aid Institute, rund 20 Millionen Menschen – PKIMitglieder und Sympathisanten, aber auch Verehrer Sukarnos sowie deren Familien – Opfer der antikommunistischen Stigmatisierung. Den politischen Gefangenen wurden nach ihrer Freilassung, wenn sie sie denn erlebten, die Buchstaben ET (Ex-Tapol) in die Kennkarte gestempelt. Damit blieben ihnen wesentliche Bürgerrechte und der Zugang zu zahlreichen Berufen wie Lehrer, Polizist oder Journalist verwehrt, ihre Kinder durften nicht studieren. Die letzten »Tapols« wurden erst nach dem Sturz Suhartos 1998 freigelassen.

Sammelklage gegen fünf Präsidenten

Die Aufarbeitung dieser traumatischen Vorgänge, die wie ein schwerer Schatten über Indonesien lasten, geht auch sieben Jahre nach dem Sturz Suhartos nur sehr langsam vor sich. Zwar dürfen Ex- Tapols inzwischen wieder wählen, doch der Versuch von Präsident Wahid, das Verbot der PKI aufzuheben, scheiterte am Widerstand vor allem der Militärs. Entgegen den Erwartungen mancher Indonesier tat die 2001 nach dem Sturz Wahids zur Präsidentin gekürte Sukarno-Tochter Megawati so gut wie nichts für die Opfer von 1965. Nicht weniger als 60 Verordnungen sorgen weiter für die wirtschaftliche, politische und rechtliche Diskriminierung der Ex-Tapols und ihrer Familien. In Schulbüchern, so der Menschenrechtler Albertus Suryo Wicaksono, werden die Mörder von damals weiter als Helden gefeiert, Schüler werden zu deren Denkmälern gekarrt.

Doch die Ex-Tapols wollen das nicht auf sich beruhen lassen. 2003 verlangten mehrere Gruppen gegenüber Präsidentin Megawati und dem Obersten Gericht Aufklärung, Rehabilitierung und Entschädigung. Sie erreichten lediglich, dass die offizielle Nationale Menschenrechtskommission das Straflager Buru untersuchen will. Deshalb reichten sie Anfang März in Jakarta eine Sammelklage gegen fünf Präsidenten ein – gegen Suharto, aber auch gegen seine vier Nachfolger, weil sie die Diskriminierungen nicht aufhoben.

Eine der Initiatorinnen ist die Britin Carmel Budiardjo, die selbst drei Jahre Gefangene Suhartos war und 1973 die Menschenrechtsorganisation TAPOL gründete. Dass das Gericht die Klage überhaupt annahm, lässt ebenso wie eine Reihe kritischer Veranstaltungen rings um den 40. Jahrestag der Massaker auf ein allmähliches Aufbrechen des großen Tabus hoffen. Doch TAPOL stellt in seinem jüngsten Bulletin besorgt die Frage, ob der neue Präsident Susilo Bambang Yudhoyono, selbst ehemals General, den politischen Willen aufbringt, der notwendig ist, diese offene Wunde der indonesischen Gesellschaft zu heilen.

* Aus: Neues Deutschland, 30. September 2005


Zurück zur Indonesien-Seite

Zurück zur Homepage