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Indiens Bauern in den Tod getrieben

Täglich 46 Suizide von Landwirten, Grund ist nicht selten die Agrarpolitik der Regierung

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Demonstrativ wählte der 41jährige Bauer Gajendra Singh aus dem Bundesstaat Rajasthan für seine Tat eine große Kulisse. Am vergangenen Mittwoch nahm er sich vor Hunderten Kollegen auf einer Kundgebung mitten in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi das Leben. Er hängte sich an einem Baum auf, während Redner der »Partei des kleinen Mannes« (AAP) auf der Tribüne die Agrarpolitik der Regierung von Premierminister Narendra Modi attackierten. AAP-Chef Arvind Kejriwal erklärte: »Die Bauern haben begriffen, dass dies nicht ihre Regierung ist, sondern eine der Superreichen.«

Singh, der am Donnerstag in seinem Heimatdorf in Rajasthan eingeäschert wurde, hinterließ einen Abschiedsbrief. Darin teilte er mit, dass er drei Kinder hat. Nach der Vernichtung seiner Ernte durch Unwetter im Frühjahr sei ihm nichts mehr geblieben, um seine Familie über die Runden zu bringen. Kundgebungsteilnehmer pflichteten ihm bei. »Es ist eine Schande. Niemand nimmt zur Kenntnis, in welcher dramatischen Lage sich viele Farmer wirklich befinden«, sagte Krishna Mohan aus dem Bundesstaat Madhya Pradesh.

Seit Jahrzehnten nehmen sich verschuldete Bauern in Indien das Leben, weil sie keinen Ausweg aus ihrer Misere sehen. Die jüngste Verzweiflungstat nahm die Opposition zum Anlass, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der regierenden rechten Indischen Volkspartei (BJP), besonders ein modifiziertes Landerwerbsgesetz, scharf zu kritisieren.

Schon kurz nach dem Tod Gajendra Singhs begannen die Schuldzuweisungen zwischen den Parteien. Am Donnerstag war der Vorfall auch Thema im Parlament. Rahul Gandhi, der nach zweimonatiger Auszeit auf die politische Bühne zurückgekehrte Vize der Kongresspartei, sagte: »Das alles geschieht wegen des Spießgesellen-Kapitalismus«, den die BJP fördere. Gandhi hatte bereits in der Vergangenheit Modis Agrarpolitik, den neoliberalen Wirtschaftskurs und die Reform des Landerwerbsgesetzes angeprangert. Dieses benachteilige 60 Prozent der Bevölkerung und diene nur einigen Industriellen, argumentierte er. Für die zunehmenden Suizide von Bauern machte er die BJP-Regierung verantwortlich. Sie schaffe eine Situation, die Farmer zu dieser drastischen Entscheidung zwinge. Der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei (Marxistisch), Sitaram Yechury, verwies darauf, dass sich unter den indischen Bauern täglich durchschnittlich 46 das Leben nehmen.

Die Änderungen machen es Industriellen und Investoren leichter, Boden für die Expansion ihrer Unternehmen zu erwerben. Die ursprüngliche, von der Vorgängerregierung verabschiedete Fassung des Gesetzes wurde von der BJP als zu »bauernfreundlich« und die industrielle Entwicklung hemmend bewertet. Tatsächlich enthielt es eine Reihe von Beschränkungen für die Großunternehmen. So sah die alte Fassung eine Zustimmung von 80 Prozent der betroffenen Bauern beim Verkauf ihres Bodens für privat-öffentliche Projekte als unabdingbare Voraussetzung vor. Davon ausgenommen sind nun Projekte der Landesverteidigung, des ländlichen Wohnungsbaus, der Energieversorgung oder des Aufbaus von modernen Städten.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 29. April 2015


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