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100 Tage Schweigen

Der indische Premier Narendra Modi sieht Wirtschaftsaufschwung und bleibt still gegenüber Fundamentalisten

Von Hilmar König, Delhi *

100 Tage ist Indiens konservativer Premier Narendra Modi seit Donnerstag im Amt. Die regierende hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) und die Opposition ziehen widersprüchliche Bilanzen.

An Selbstvertrauen fehlt es ihr nicht: der in Indien derzeit regierenden hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP). Nach 100 Tagen Amtszeit glaubt sie, sie habe den wirtschaftlichen Abwärtstrend der Vorgängerregierung gestoppt und die »politische Lähmung« beendet. Die Krisenzeit habe man bereits hinter sich gebracht. Die Partei führt dazu die jüngsten statistischen Daten an. Danach ist das Bruttoinlandsprodukt zwischen April und Juni um 5,7 Prozent und der Produktionsausstoß um 3,5 Prozent gewachsen. Das signalisiere die Erholung der Wirtschaft. Modi resümierte: »Wir haben jetzt eine stabile Situation und müssen auf der Startbahn Gas geben.«

Sein PR-Team preist als großen Erfolg das vor wenigen Tagen initiierte Projekt, jedem Haushalt die Eröffnung eines Bankkontos zu ermöglichen. Damit werde die »finanzielle Unberührbarkeit« beträchtlicher Gruppen der Bevölkerung beseitigt. Es sei ein entscheidender Schritt im Kampf gegen die Armut. Die Kritiker monierten, wer keinen Job hat oder von der Hand in den Mund leben muss, dem hilft ein Konto ohne Guthaben auch nicht aus der Misere.

Als nennenswerte Errungenschaft gilt auch, dass das Auslandskapital bis zu 49 Prozent in die Verteidigungsindustrie und zu 100 Prozent in die Eisenbahn – das größte staatliche Unternehmen – investieren darf. Auf die Habenseite schreibt sich die BJP zudem eine Reihe von administrativen Entscheidungen, die die Opposition als Rückschritt bewertet. So werden Infrastrukturmaßnahmen zwar zügiger als früher umgesetzt, jedoch auf Kosten der Umwelt. Die Naturschutzbehörde wurde so umgestaltet, dass die Regierung stärkeren Einfluss bekommt. Auf Druck der Industrie soll das Gesetz zum Landerwerb modifiziert und Arbeitsreformen sollen durchgeführt werden, die die Rechte der Gewerkschaften einschränken. »Ich habe Kommerz und Money im Blut«, beschrieb Modi seine Position während seines am Mittwoch beendeten Besuchs in Japan.

Apropos Außenpolitik. Hier war Narendra Modi vor dem 26. Mai, dem Tag seiner Vereidigung zum Premier, ein nahezu unbeschriebenes Blatt. Und hier hat er alle, auch seine schärfster Kritiker, positiv überrascht. Die Einladung an alle südasiatischen Nachbarn, einschließlich Pakistans Premier Nawaz Sharif, zu seiner Amtseinführung, war ein Paukenschlag. Dem folgten das BRICS-Gipfeltreffen in Brasilien, Besuche in Bhutan und Nepal und dieser Tage die Visite in Japan. In Tokio erhielt er von seinem Amtskollegen Shinzo Abe die Zusage über Investitionen in Höhe von 35,5 Milliarden Dollar. Beide vereinbarten eine »spezielle strategische und globale Partnerschaft«.

Besonders an zwei Fronten wird der Premier jedoch scharf attackiert: eine unübersehbare Zentralisierung der Macht in seiner Person, wie er sie zuvor 15 Jahre lang als Chefminister des Unionsstaates Gujarat praktizierte. Wie schon in der Wahlkampagne im Frühjahr, als nicht die BJP, sondern der scharfzüngige Politiker Modi im Mittelpunkt stand und sich als »Retter« Indiens gerierte, dreht sich auch jetzt alles um ihn. Alle Entscheidungen gehen von ihm aus. Während seine Anhänger ihn als »entschiedenen Macher« loben, sehen die Gegner ihn bereits nach 100 Tagen als Diktator, dessen Stil so gar nicht in die demokratische Landschaft Indiens passt. Beispielsweise ordnete er an, dass am 5. September zum Tag des Lehrers alle Schulen seine vom Fernsehen übertragene Rede und sein Treffen mit ausgewählten Schülern zu verfolgen haben. Die Schulen werden kontrolliert und haben einen Vollzugsbericht abzuliefern.

Der zweite Angriffspunkt ist Modis demonstratives Schweigen zu aufwieglerischen, brisanten Äußerungen aus Kreisen seiner Partei und anderer hindufundamentalistischer Gruppen. Dabei geht es vor allem um die muslimische Minderheit. Ihr wird ein ominöser »Liebes-Dschihad« unterstellt, durch den leichtgläubige Hindu-Mädchen von Muslim-Jungen verführt und zum Islam bekehrt würden. Angeblich handelt es sich dabei um eine landesweite Verschwörung, für die es allerdings keinerlei Beweise gibt. Zu dieser spalterischen, provozierenden, die säkulare gesellschaftliche Struktur Indiens gefährdenden Offensive religiöser Fanatiker hat der Regierungschef kein einziges Wort verlauten lassen. 100 Tage dazu Schweigen, so meint die Opposition, sei auch ein Bekenntnis.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 4. September 2014


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