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"Der linke Block ist in ganz Indien geschwächt"

Parlamentswahl in neun Phasen: Sieg der fundamentalistischen Hindu-Partei BJP erwartet. Gespräch mit Dipankar Bhattacharya *


Dipankar Bhattacharya ist Generalsekretär der ehemals maoistischen »Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten-Leninisten) Liberation« – einer von mehreren Parteien des Landes, die sich kommunistisch nennen.


Viele Beobachter erwarten bei den Parlamentswahlen, die in Indien in neun Phasen von Anfang April bis Mitte Mai 2014 stattfinden, die Ablösung der regierenden Kongreßpartei und einen Sieg des rechten Blocks um die hindu-fundamentalistische BJP. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja, die Großkonzerne ganz Indiens haben sich zusammengeschlossen, um BJP-Chef Narendra Modi zum Ministerpräsidenten zu machen. Anfangs hatte er nur die Unterstützung der Tata-Gruppe, aber jetzt stehen auch Mittal, Ambani und andere Industriekonzerne hinter ihm. Nachdem sie jahrelang von der Politik der Kongreßpartei-Regierung unter Manmohan Singh profitiert haben, wollen sie nun weitere Wohltaten. Deshalb brauchen wir einen Richtungswechsel, neue Strategien.

Was sind die drängendsten Probleme Indiens?

Teuerung, Korruption, staatliche Repression und die Macht der Konzerne über die Demokratie. Wir brauchen preiswerte Stromversorgung, sauberes Wasser, gute Bildung und Gesundheitsversorgung für alle. Ferner fordern wir die Übernahme der prekären Kontraktarbeiter in reguläre Beschäftigungsverhältnisse, die Anhebung der Mindestlöhne auf 15000 Rupien im Monat und die Durchsetzung von gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit. Jugendliche mit Schulabschluß müssen 5000 Rupien Arbeitslosenhilfe bekommen, bis sie einen Job finden.

Indien war lange Zeit Verbündeter der Sowjetunion, wird das Land jetzt zum Juniorpartner der USA in Asien?

Indiens zunehmende Unterwürfigkeit unter den US-Imperialismus hat die Krise weiter vertieft. Als Finanzminister hatte Singh die indische Wirtschaft für ausländische und Konzerninteressen geöffnet; als Premierminister hat er die Außenpolitik der US-Strategie untergeordnet.

Bei den Regionalwahlen erzielte jüngst die neugegründete Protestpartei AAP (Aam Aadmi Party) mit über 30 Prozent der Stimmen einen Überraschungserfolg. Was verbirgt sich dahinter?

Die AAP ist vor allem in der wachsenden städtischen Mittelschicht verankert, die anfangs von den wirtschaftlichen Reformen profitierte und nun unter Vetternwirtschaft und Korruption zu leiden hat. Deshalb sucht sie die Zusammenarbeit mit der Arbeiterklasse, ohne jedoch deren Forderung nach einem Politikwechsel zu übernehmen. Sie strebt sozialökonomische Fortschritte an, ohne den Kapitalismus als solchen in Frage zu stellen.

Wie reagiert die Linke darauf?

Landesweit ist der linke Block geschwächt, seitdem die kommunistischen Parteien CPI und CPI (Marxisten) stark an Einfluß verloren haben. Wir jedenfalls haben uns einen eindrucksvollen Wahlkampf vorgenommen.

Die AAP und andere halten Sozialismus und Kommunismus für überholt – widersprechen Sie?

Die Sowjetunion ist wirtschaftlich gescheitert und unter dem Druck ihrer bürokratischen Stagnation zusammengebrochen; China gerät mit seinen wirtschaftlichen Experimenten ins Straucheln – das alles stellt aber unsere Vorstellung vom Kommunismus nicht in Frage. In diesem 21. Jahrhundert haben wir erlebt, welchen Aufschwung die Linke in Lateinamerika hat, wobei sie der Demokratie und der Beteiligung der Menschen besondere Beachtung schenkt.

Der Kommunismus ist keine vorfabrizierte Ideologie, er bleibt eine futuristische Vision und hat in seinen mehr als 160 Jahren eine enorme Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit gezeigt. Er hat Gesellschaften aus der feudalen Rückständigkeit gerissen, Kolonialherrschaft beseitigt, Monarchien abgeschafft und den Faschismus besiegt.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 17. April 2014


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