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Täglich neue Opfer

Indien: Problem massenhafter Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen weiter ungelöst

Von Hilmar König *

Vor genau zwei Jahren, am 16. Dezember 2012, wurde Indien durch einen grsslichen Fall von Gewalt gegen Frauen erschüttert. Eine 23jährige wurde in einem Bus in Neu-Delhi von fünf Männern missbraucht und anschließend massakriert. Sie starb an schweren inneren Verletzungen. Eine Woge des Protests ging damals durch das Land. Der Fall machte Schlagzeilen in den internationalen Medien. Indiens Parlament verschärfte das Antivergewaltigungsgesetz. Die Täter wurden verurteilt: Todesstrafe für die vier Erwachsenen, bislang nicht vollstreckt, einer von ihnen starb im Gefängnis, drei Jahre Jugendhaft für den fünften. Inzwischen gab es einen Regierungswechsel. Premier Narendra Modi appellierte an die Bürger, »Mütter, Töchter und Schwestern« besser zu schützen. Sein Vorgänger Manmohan Singh hatte das Problem als »nationale Schande« gebrandmarkt.

Beider Ruf verhallte ungehört. Im Alltag hat sich in diesen zwei Jahren nichts wesentlich geändert. Gewalt gegen Mädchen und Frauen bleibt ein soziales Problem. Die Medien sprechen unverblümt von einer »Vergewaltigungsepidemie«.

Vor wenigen Tagen wurde eine 27jährige ebenfalls in Neu-Delhi in einem Taxi missbraucht. Der Täter drohte, er werde das Opfer so foltern, wie es die Männer vor zwei Jahren im Bus taten, sollte es Anzeige bei der Polizei erstatten. In Chandigarh vergewaltigten vorige Woche drei Männer eine Mutter, brachten deren Sohn um, der Augenzeuge der Tat war, und verkauften die Frau in einen entfernten Landesteil. In Rajasthan war vor Jahresfrist eine 19jährige von drei Männern vergewaltigt und dann vor einen Zug geworfen worden. Ihr wurden beide Beine abgefahren. In Punjab wurde dieser Tage eine 17jährige mit Kerosin übergossen und angezündet, weil sie ihren Vergewaltigungsfall der Polizei gemeldet hatte. In Madhya Pradesh »empfahl« ein Dorfgericht einer 16jährigen, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war, abzutreiben und die vom Täter angebotene »Entschädigungssumme« anzunehmen. In Ahmedabad verging sich ein Toilettenwächter an einer Frau, die gerade ihre Notdurft verrichtet hatte. In Kaschmir spritzte ein Mann einer Minderjährigen Säure ins Gesicht, weil sie seine Annäherungsversuche abgewiesen hatte.

Die jüngste Statistik, im September vom Nationalen Büro für Verbrechensaufzeichnungen veröffentlicht, bezieht sich auf das Jahr 2013 und lässt die Dimension des Problems nur erahnen. Demnach wurden landesweit 33.707 Vergewaltigungsfälle angezeigt. 13.304mal waren die Opfer Minderjährige. Das sei aber nur die Spitze des Eisbergs, sind sich Frauenorganisationen und Sozialexperten sicher. Durchschnittlich 92 solcher Fälle registriert die Polizei an einem Tag, allein in Delhi waren es 2013 knapp über 1.630 Anzeigen. Zu 90 Prozent kennen die Opfer die Täter: In 539 Fällen war es der Vater, 10.782mal ein Nachbar, 2.315mal ein Verwandter und 18.171mal eine andere bekannte Person.

Dass diese Zahlen gegenüber dem Vorjahr gestiegen sind, bewertet die Regierung als positives Zeichen. Sie würden beweisen, dass erstens mehr Frauen den Mut haben, das Verbrechen öffentlich zu machen und sich ihr Recht zu verschaffen, und dass zweitens die Polizei ernsthafter und schneller reagiere. Fakt bleibt, dass der nach dem Verbrechen vor zwei Jahren sehr gründlich und detailliert angefertigte Report einer Sonderkommission zur Gewalt gegen Frauen Moos ansetzt. Seine konstruktiven Empfehlungen, inklusive einer intensiven Beschäftigung mit den Verhaltensmustern von Aggressivität, Diskriminierung und Gewaltausübung der Männer gegen Frauen, sind nur bruchstückhaft in die Tat umgesetzt worden. Und ein staatlicher Fonds zur Einrichtung von Hilfszentren für Opfer liegt auch nach zwei Jahren ungenutzt auf Eis.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 18. Dezember 2014


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