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Indiens "rote Bastion" wird grün

Linksfront in Westbengalen erlitt bei den Assembly-Wahlen ein Debakel

Von Henri Rudolph, Delhi *

Die Allianz aus Trinamool Congress (TMC) und Kongresspartei hat bei den Wahlen zur Volksvertretung (Assembly) des indischen Unionsstaates Westbengalen 226 der insgesamt 294 Abgeordnetensitze gewonnen. Damit beendete sie die 34 Jahre dauernde Regierungszeit der Linksfront. Diese kam lediglich auf 62 Sitze. Der kommunistische Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee reichte beim Gouverneur gleich nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses seinen Rücktritt ein.

Über der einstigen »roten Bastion« in Kolkata, früher Kalkutta, wehen seit dem Wochenende die grünen Flaggen des 1998 gegründeten TMC. Trinamool bedeutet Graswurzel. Die Partei ist in diesem Unionsstaat verwurzelt, auch wenn sie mit 19 Abgeordneten als zweitstärkste Fraktion der regierenden Vereinten Progressiven Allianz im Unterhaus und mit drei Abgeordneten im Oberhaus des Zentralparlaments in Delhi vertreten ist. Ihre Chefin Mamata Banerjee, seit zwei Jahren Eisenbahnministerin Indiens, war mit dem patriotisch-sentimentalen Slogan »Maa, Mati, Manush« (Mutter, Erde, Volk) in den Wahlkampf gezogen und hatte »Paribartan« (Wechsel, Wandel) auf ihre Fahnen geschrieben. Damit hatte sie wohl den Nerv der Wählerschaft getroffen. Diese erhoffte sich von einem Regierungswechsel einen Entwicklungsschub auf allen Gebieten. Die Versprechungen der künftigen Chefministerin klingen jedenfalls großartig: »Reis für alle und Jobs für alle.«

Für die keineswegs überraschende Niederlage der Linksfront gibt es viele Gründe, obwohl man diese erst noch gewissenhaft analysieren will. Sie sah sich einer geschlossenen Oppositionsfront gegenüber, die auch die in drei Distrikten aktiven maoistischen Rebellen und die gesamte bürgerliche Presse einschloss. Ihre Führung war, dreieinhalb Jahrzehnte ununterbrochen an der Macht, selbstherrlich geworden, hatte Entscheidungen getroffen, die ihre Basis in der Bevölkerung schwächten und dezimierten. Dazu zählte vor allem ein Industrialisierungsprozess, das mit der Brechstange umgesetzt werden sollte. Es hätte die Existenzgrundlage vieler Kleinbauern, die einst von der Bodenreform der Linksfront profitierten, bedroht. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens (KPI), A.B. Bardhan, identifizierte »Isolierung und Entfremdung der Linksfront von den Massen« als eine der Hauptursachen für ihr schwaches Abschneiden.

Der TMC schlug sich auf die Seite der protestierenden Bauern und Landarbeiter und legte damit den Grundstein für seine wachsende Popularität und schließlich den Wahlsieg. In den Reihen der Linksfront gab es Spannungen, weil ein Teil der Minister offensichtlich die Zeichen der Zeit nicht verstand und Dienst nach Vorschrift machte. Der »Korrekturprozess« setzte zu spät ein. Chefminister Bhattacharjee verlor immer mehr an Ansehen, während sich Frau Banerjee unaufhaltsam profilierte und bei jedem öffentlichen Auftritt von Hunderttausenden bejubelt wurde.

In einer Erklärung des Politbüros der KPI(Marxistisch), die in der Linksfront den Ton angab, wurde nach der Wahlniederlage an die soliden Errungenschaften aus mehr als drei Dekaden erinnert: »Bodenreform, ein demokratisiertes Gemeinderatssystem, Progress in der Landwirtschaft, Gewährleistung demokratischer Rechte für die Werktätigen, Sicherung der Einheit, Integrität und Harmonie zwischen den Gemeinschaften im Unionsstaat«. Das seien historische Erfolge und ein bleibendes Erbe. Die Niederlage sei ein herber Schlag für Indiens Linke. Aber sie würde überhaupt nicht bedeuten, dass damit etwa linke Programme und Politik für Indien irrelevant geworden seien. Der Vorsitzende der Linksfront Westbengalens, Biman Bose, erklärte, die linken Parteien seien nicht mit einem Garantieschein zum Regieren auf die Welt gekommen. Vielmehr müssten sie entschlossen tagtäglich für die Interessen des Volkes kämpfen.

Neben Westbengalen gab es noch in drei anderen Staaten und im Unionsterritorium Puducherry, wie die einstige französische Kolonie Pondicherry jetzt heißt, Assembly-Wahlen. Sie waren zum »Minireferendum« über die Politik der Regierung von Premier Manmohan Singh hochstilisiert worden. Im nordöstlichen Assam siegte zum dritten Mal in Folge die Kongresspartei unter Chefminister Tarun Gogoi. In Tamil Nadu löste die Regionalpartei AIADMK unter ihrer charismatischen Führerin Jayalalithaa die ebenfalls regionale DMK ab. In Kerala verbuchte die von der Kongresspartei dominierte Vereinte Demokratische Front einen knappen Sieg mit vier Mandaten Vorsprung über die Linksdemokratische Front. Und in Puducherry siegte der von der Kongresspartei abgesplitterte All India NR Congress. Mit diesen Ergebnissen erhielt die in letzter Zeit wegen etlicher Korruptionsskandale und einer anhaltenden Teuerungswelle in Bedrängnis geratene Regierungsallianz etwas Luft zum Durchatmen. Die rechte hindunationalistische Volkspartei BJP bekam im gesamten »Minireferendum« von 828 Assembly-Sitzen magere sechs Mandate.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Mai 2011


Tiefschläge für Indiens Linke

Wahlniederlagen in den Bundesstaaten Westbengalen und Kerala

Von Ashok Rajput, Neu-Delhi **


Indiens Linke muß eine Tiefschlagdublette verkraften. Sie verlor bei Wahlen zur Volksvertretung (Assembly) in den Bundesstaaten Westbengalen und Kerala. In Westbengalen wurde die seit 34 Jahren ohne Unterbrechung regierende Linksfront von der Allianz aus Trinamool Congress (TMC) und Kongreßpartei geradezu vorgeführt. Diese errang 226 der insgesamt 294 Abgeordnetensitze. Die Linken rutschten von 235 Mandaten, die sie bei den Assembly-Wahlen 2006 bekamen, auf jetzt 62. In Kerala, wo die Regierung traditionell alle fünf Jahre abgewählt wird, fiel das Ergebnis knapp aus. Die zuletzt regierende Linksdemokratische Front erhielt 68 Mandate, die von der Kongreßpartei geführte Vereinte Demokratische Front hingegen 72. Das reichte zum Sieg. Kein Trost, daß dort die KPI (Marxistisch) sich mit 45 Mandaten als stärkste Einzelpartei im lokalen Parlament behauptete.

Die Eroberung der »roten Festung« in Kolkata (einst Kalkutta) durch die bürgerliche Allianz liefert noch immer Schlagzeilen. Die TMC-Vorsitzende Mamata Banerjee wird am kommenden Mittwoch als Chefministerin eingeschworen. Erstmals in der Geschichte Westbengalens übernimmt damit eine Frau die Geschicke dieses Bundesstaates. Sie präsentierte sich clever in allen Phasen des Wahlkampfes, wurde nach Kräften von den großen Medienkonzernen unterstützt und nutzte Schwächen und Fehler der Linksfront aus, vornehmlich die unpopuläre Industrialisierungspolitik sowie Überheblichkeit von Ministern, Willkür der Polizei und Behörden.

Nilotpal Basu, ein Führer der KPI (Marxistisch), erkannte nach dem Debakel: »Wir müssen auf den Boden der Tatsachen zurückkehren.« Ardendhu Bhushan Bardhan, der Generalsekretär der KP Indiens, bewertete die Niederlage in Westbengalen als »Warnsignal« für die Linken. Wenn deren Führungen sich nicht auf die nackten Tatsachen einstellen und auf verschiedene Situationen nicht die geeigneten Taktiken anwenden könnten, dann bliebe ihnen nur die Option zu gehen. Er sprach am Sonntag gegenüber der Zeitung The Hindu von »Arroganz und Korruption unter Kadern und Führern auf einigen Ebenen« sowie von »Entfremdung und Isolierung« der Linksfront von den Massen.

Mamata Banerjee, seit zwei Jahren Eisenbahnministerin Indiens, will nun alles besser machen, in fünf Jahren nachholen, was die Linksfront angeblich alles versäumt hat. Alle Bürger sollen Reis und einen Job haben. Ob dieses Wunder Amit Mitra, der Generalsekretär des indischen Industriellenverbandes FICCI, der als neuer Finanzminister vorgesehen ist, vollbringen kann, darf angezweifelt werden. In ihrer ersten kurzen Ansprache nach dem Sieg rechnete Banerjee nochmals mit der Linksfront ab. Sie sprach davon, einen Tag der »zweiten Unabhängigkeit« zu feiern – »nach 35 langen Jahren der Folter, des Tötens, der Ausbeutung, der Ablehnung, der Mißwirtschaft und des Mangels an Entwicklung«. Die Linksfront sei keine Regierung für das Volk, sondern eine »von Marxisten für Marxisten« gewesen.

In einer Erklärung erinnert das Politbüro der KPI (M) an die soliden Errungenschaften in mehr als drei Dekaden Linksfrontregierung, darunter die Bodenreform, ein demokratisiertes Gemeinderatssystem, Progreß in der Landwirtschaft, Gewährleistung demokratischer Rechte für die Werktätigen, Sicherung der Einheit, Integrität und Harmonie zwischen den ethnischen und religiösen Gemeinschaften in dem Bundesstaat. Das seien historische Erfolge und ein bleibendes Erbe. Die Niederlage sei ein herber Schlag für Indiens Linke. Aber sie würde keineswegs bedeuten, daß damit etwa linke Programme und Politik irrelevant geworden wären.

** Aus: junge Welt, 16. Mai 2011


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