Eine "offene Wunde" heilt manche Leiden
Der Konflikt um Kaschmir bestimmt die Geschichte Indiens und Pakistans
Nachfolgenden histprischen Überblick über die Geschichte des indisch-pakistanischen Konflikts haben wir - gekürzt - der Wochenzeitung "Freitag" vom 4. Januar 2002 entnommen.
Von Armin Wertz
...
Die Kommandeure der Aufständischen, die eine erbitterte Bataille gegen
die indische Armee führen, zahlen gut. 100.000 Rupien erhält jede Familie,
die einen "Freiheitskämpfer" stellt, umgerechnet 1.200 Dollar. Doch es ist
nicht allein der fürstliche Sold, der den Rebellen Zulauf sichert - dafür sorgt
auch das Dilemma einer an sich unbeteiligten Zivilbevölkerung, die seit
Jahrzehnten unter dem Konflikt leidet und als Teil der Guerilla gegen ihr
Schicksal aufbegehrt.
Kurz nach Sonnenuntergang am 20. September 2001 wurde der 45 Jahre
alte Mohammed Akbar Bhatt, Imam der größten Moschee in Dardpora, auf
der Brücke über einen Gebirgsfluss, der die Ortschaft teilt, von
Unbekannten erschossen. "Er hatte keine Feinde", glaubt seine Witwe
Zarifa Begum, "mir ist völlig unerklärlich, weshalb das passiert ist ..." An
vielen Orten in Kaschmir geraten die Imame ins Visier der Scharfschützen,
weil ihr Tod die Gemeinden terrorisieren und zwingen soll, Position zu
beziehen - ein satanisches Spiel zwischen der moslemischen Guerilla und
den indischen Truppen.
Fünfmal am Tag versammeln sich gläubige Moslems in den Moscheen von
Jammu und Kaschmir zum Gebet, was den Imam zur einflussreichen
Persönlichkeit erhebt. In normalen Zeiten verbreitet er die liberalen Ideen
einer islamischen Lehre, die hier seit Jahrhunderten dominiert, doch
Normalität zitiert in der Region bestenfalls eine weit zurückliegende
Vergangenheit. Wagt es heute ein Imam, die puritanische Lehre von einst
zu verkünden, wird er zur Zielscheibe der jihadi, der Heiligen Krieger, die
mit Hilfe gläubiger Stammeskrieger aus Pakistan gegen die "Herrschaft der
Ungläubigen" anrennen. Fügt sich der Geistliche andererseits dem Druck
dieser orthodoxen Fanatiker und predigt die opportune Version der Lehre
des Propheten, provoziert das die indischen Besatzungsmacht, die ihn als
"Propagandisten des Terrors" geißelt.
Zwar sind auch die Rebellen nicht wählerisch in ihren Methoden, doch
Indiens Kaschmir-Korps schreckt vor Erpressung, Vergewaltigung, Mord
und außergerichtlichen Hinrichtungen nicht zurück. Dieses rigide
Besatzungsregime hat in den vergangenen Jahren viele pro-indisch
eingestellte Kaschmiri von Delhi entfremdet. Bis zum 11. September galt
auch für sie Pakistans heutiger Präsident, Pervez Musharraf, der einst als
Generalstabschef der Armee die Sache Kaschmirs so vehement wie
aggressiv vertreten hatte, als Galionsfigur einer erhofften Autonomie, doch
als sich der General der von den USA geführten "Anti-Terror-Allianz"
anschloss, begann die Suche nach einem neuen Idol. Schon wenige
Wochen nach dem 11. September riefen Militante in Srinagar - der
Hauptstadt des indisch besetzten Teils - einen Generalstreik aus, und die
Gläubigen strömten aus der großen Moschee und riefen: "Möge Allah den
wahren ›jihadi‹, möge er Osama bin Laden segnen." Käme bin Laden nach
Kaschmir, man würde ihn willkommen heißen, versichern heute selbst
moderate Kaschmiri.
Für drei Rupien verkauft, bei lebendigem Leib gehäutet
Rund 85 Prozent der Bewohner des Kaschmirtals bekennen sich zum
islamischen Glauben, während die nicht-moslemische Minorität von den
Hindu-Pandits dominiert ist. Sei 100 Jahren besetzen sie die
Regierungsposten und gelten als Brahmanen, die auf Moslems, Sikhs wie
Hindus der niederen Kasten gleichermaßen herunter-, doch zu ihren
Kolonialherren aufblicken.
Als Teil des Vertrags von Amritsar, der 1846 den Sieg der Briten im ersten
Sikh-Krieg besiegelte, war Kaschmir unter britische Kontrolle gefallen.
London war jedoch eher an einer Pufferzone zwischen dem indischen
Subkontinent und dem zaristischen Russland interessiert und verkaufte
den von vielen Eroberern erträumten Juwel an Gulab Singh, einen
Emporkömmling vom Clan der Dogras aus dem Winzlingsstaat Jammu im
Südwesten Kaschmirs, der sich sowohl den Sikh-Maharajas als auch den
Briten unentbehrlich gemacht hatte. Als Preis waren 75 lakh-Rupien (heute
etwa 750.000 Pfund) sowie einige Kaschmir-Schals vereinbart - zweifellos
eine traumatische Erfahrung für die Einheimischen.
"Genau genommen wurde jeder von uns für drei Rupien verkauft", rechnet
Mian Abdul Qayum vor, der Präsident der Anwaltskammer in Srinagar, "mit
diesem Coup setzte sich das Leiden der Kaschmiri fort." ...
Die politische Aufklärung der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts prägte
ein Mann, der für Jahrzehnte die Geschicke Kaschmirs beeinflussen sollte:
Scheich Mohammed Abdullah, gepriesen als Sher-i Kaschmir - "Löwe von
Kaschmir" - und attackiert als Gegenspieler des britischen
Kolonialprätendenten, Lord Mountbattan, wie des Führers des Indischen
Nationalkongresses (INC), Jawaharlal Nehru. Abdullah gründete die All
Jammu and Kaschmir Muslim Conference, die alle moslemischen wie
nicht-moslemischen Kaschmiri vereinen wollte, allerdings nie die Wirkung
erzielte, die der Begründer erhoffte. Schon bald verließen die religiösen
Moslems den Bund und gründeten ihr eigenes All India Kaschmir
Committee. Die Separation der Fundamentalisten ermöglichte eine
Annäherung zwischen Abdullah und Nehru - beide vertraten den gleichen
säkularen Nationalismus. Doch während Abdullah, der Sohn eines
Schalwebers, Kaschmir die Befreiung von der Dogra-Herrschaft sowie
Freiheit, Demokratie und soziale Reformen versprach, sah der
Hindu-Pandit und Cambridge-Absolvent Nehru das Ziel seiner Politik
vorrangig in einem freien, vereinten und unabhängigen Indien. Zwar
versprach er 1935: "Der Indische Nationalkongress erkennt als gültig an,
dass die Völker der indischen Staaten nicht weniger Recht auf Swaraj
(Unabhängigkeit) haben als die Menschen von Britisch-Indien." Bereits vier
Jahre später deutete er jedoch an, ein souveränes Kaschmir käme für ihn
nicht in Frage. Indien müsse seine Freiheit durch Einheit erreichen, schrieb
er 1939.
Indiens Intervention, Nehrus Versprechen
Als am 14. August 1947, dem Vorabend der Unabhängigkeit, der Union
Jack auf dem Subkontinent letztmals eingeholt wurde, war Kaschmir
zunächst tatsächlich selbstständig - doch nur für 73 Tage. Wie in
Bengalen und im Punjab, wo die Teilung von Indien und Pakistan (...) wahre Völkerwanderungen auslöste und auf beiden Seiten
grausamste Massaker begangen wurden (es gab eine Million Tote),
gerieten auch Jammu und Kaschmir in Aufruhr. Innerhalb von elf Wochen
kam bei Pogromen in Jammu praktisch die gesamte moslemische
Einwohnerschaft - etwa 500. 000 Menschen - ums Leben. Mehr als
200.000 verschwanden spurlos, der Rest floh nach Pakistan. Zugleich
strömten Scharen wilder Stammeskrieger aus Nordpakistan und
Afghanistan - vorzugsweise Paschtunen - nach Kaschmir, um ihren
bedrängten Glaubensbrüdern beizustehen. ...
Der Maharaja floh und bat Indien um Hilfe, das unter der Bedingung
intervenieren wollte, dass sich Kaschmir der Indischen Union anschließen
werde. Schließlich rang sich Delhi zu der Konzession durch, ein Plebiszit
möge über den endgültigen Status der Region entscheiden, sobald es die
Lage erlaube, doch bestand für Jawaharlal Nehru nie ein Zweifel, dass die
moslemische Mehrheit für Pakistan optieren würde. Zwar versprach er im
Oktober 1947 der UNO zunächst: "Die Regierung Indiens möchte
klarstellen, dass die Menschen Kaschmirs, sobald wieder Normalität
hergestellt ist, frei über ihr Schicksal entscheiden können und diese
Entscheidung per Plebiszit oder Referendum durchgeführt wird." Doch es
war die reine Camouflage, um in New York die Gemüter zu beruhigen.
Seither ist Kaschmir entlang der Waffenstillstandslinie geteilt, die 1948/49
den ersten indisch-pakistanischen Krieg beendete. Als der
UN-Sicherheitsrat 1964 wieder einmal die Situation in der Konfliktzone
debattierte, stand das Thema bereits zum 110. Mal auf der Tagesordnung.
Was davor oder danach an Vorschlägen formuliert wurde, stieß entweder
auf Widerspruch aus Islamabad oder aus Delhi oder synchron von beiden.
Indien hat sich daran gewöhnt, den Grenzstaat als "integrierten Teil"
anzusehen - Pakistan schätzt die "offene Wunde", weil sich damit nicht
zuletzt auch manch interner Konflikt "behandeln" lässt.
Aus: Freitag 02, 4. Januar 2002
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