"Die Hunderttagearbeit hält uns am Leben"
Ein Beschäftigungsprogramm für ländliche Gebiete ist der Wahltrumpf der indischen Regierung
Von Hilmar König, Delhi *
Zu den bemerkenswerten Errungenschaften der in Indien regierenden Vereinten Progressiven
Allianz gehört das Projekt, Familien in ländlichen Gebieten 100 Tage im Jahr bezahlte Beschäftigung
zu garantieren. Mindestens 43 Millionen Haushalte haben daraus bisher Nutzen gezogen. Die
Kongresspartei und ihre Koalitionspartner hoffen, dass sich das bei den gegenwärtigen
Parlamentswahlen in Stimmengewinnen auszahlt.
Nordindien leidet unter brütender Sommerhitze. Der »Lu«, der brennend-heiße Wüstenwind aus
Rajasthan, treibt die Quecksilbersäule in Delhi und Umgebung auf Rekordtemperaturen von über 44
Grad. Dennoch gehen Kamla Devi und Swapna Durga ihrem anstrengenden Tagwerk nach. Sie
arbeiten an einem ländlichen Wegebauprojekt im Unionsstaat Haryana. In mühevoller Handarbeit
zerkleinern und transportieren sie Schotter für den Unterbau.
Die Steine sind heiß. Die Geräte sind heiß. Weit und breit kein Schatten. Die Frauen aber beklagen
sich nicht. Sie sind froh, durch das Beschäftigungsprogramm, das unter dem Kürzel NREGA
(National Rural Employment Guarantee Act) bekannt ist, eine bezahlte Arbeit bekommen zu haben.
»Der Mindestlohn beträgt 80 Rupien am Tag. Das ist besser als gar nichts und reicht zu ein paar
Litern Milch für die Kinder«, erklärt Kamla Devi. »Für viele von uns ist das die einzige
Einkommensquelle: Deshalb sind alle froh, dass es dieses Programm gibt«, ergänzt ihre Kollegin.
Stolz sind die Väter des Projekts
Das entsprechende Gesetz, das im September 2005 in Kraft trat, war zunächst für 200 ausgewählte,
besonders unterentwickelte Distrikte bestimmt. Seit 2008 gib es jedoch in allen 604 indischen
Distrikten NREGA-Baustellen. Wichtigstes Ziel ist es, die Lebensqualität in den ländlichen Gebieten
zu verbessern und so viele Familien wie möglich über die Armutsschwelle zu hieven. Jeweils ein
erwachsenes Haushaltsmitglied erhält für 100 Tage eine Beschäftigung an einem gemeinnützigen
Projekt. Die Arbeit wird mit einem Tagesverdienst von rund 80 Rupien entlohnt, das sind etwa
anderthalb Euro.
Die Väter des Gesetzes sind stolz auf ihr Kind. Selbst die Opposition findet kaum etwas daran zu
bemäkeln. Premier Manmohan Singh und Sonia Gandhi, die Chefin der Kongresspartei, verwiesen
bislang im Wahlkampf immer wieder auf dieses Programm als »einen Segen für die Ärmsten der
Armen«, für »Aam Admi«, die einfachen Menschen. Parteisprecher Abhishek Singhvi sprach vom
»erfolgreichsten sozialen Wohlfahrtsprogramm im unabhängigen Indien«.
Auch der Ökonom Dr. Mihir Shah schätzt ein, dass Arme dadurch in einem bisher beispiellosen
Ausmaß Geld in die Hand bekommen haben. Mani Shankar Aiyar, Minister für Panchayate, wie die
örtlichen Selbstverwaltungen in den ländlichen Gebieten heißen, meint sogar, das
Beschäftigungsprogramm »reflektiert einen Charakterzug des Nehruschen Sozialismus in der
Kongresspartei«. Bei einem öffentlichen Treffen, das im März Vertreter aller politischen Richtungen
in Delhi vereinte, lehnte niemand NREGA ab. Allenfalls Verbesserungen wurden gefordert, zum
Beispiel eine Verlängerung über 100 Tage hinaus.
Etwa 75 Prozent aller Arbeiten im Rahmen des NREGA-Programms dienen der Verbesserung des
Wasserhaushalts: Brunnen werden geschachtet, versiegte Wasserreservoirs gesäubert und
»wiederbelebt«, kleine Bewässerungsanlagen gebaut, Uferbefestigungen saniert, Erdwälle
aufgeschüttet, damit Regenwasser gespeichert werden kann. In verschiedenen Landesteilen hat das
gleich nach der Regenzeit beachtliche Früchte getragen und den Elan der NREGA-Arbeiter
angespornt. Frauen in zahlreichen Dörfern, beispielsweise im rajasthanischen Distrikt Dungarpur,
müssen nicht mehr kilometerweit zur nächsten Wasserstelle laufen, denn jetzt gibt es Trinkwasser
aus einem Brunnen im Dorf. Bereits im ersten Jahr vergrößerte sich die Wasserspeicherkapazität in
NREGA-Distrikten um 120 Millionen Kubikmeter.
Schutz vor Boden- und vor Winderosion, Drainagesysteme, Forstschutz, Anlegen von Plantagen,
Bau ländlicher Verbindungsstraßen, Schutz vor Überflutungen -- das alles gehört ins NREGAProgramm.
Im Wayanad-Distrikt von Kerala wurden Passagekorridore für wilde Elefanten angelegt,
die sich Jahr für Jahr an den Ernten auf hunderten Hektar besten Ackerlandes gütlich getan hatten.
In Teilen der bengalischen Gangesdeltas, hörte die illegale Fischerei auf, nachdem
Bewässerungskanäle die regulierte Fischzucht möglich gemacht hatten.
Wie sich zeigt, hat das Beschäftigungsprogramm eine Reihe günstiger Nebenwirkungen. In etlichen
Gebieten geht die große Zahl derer zurück, die auf der Suche nach Arbeit in die Städte abwandern.
Im Gefolge besuchen mehr Kinder regelmäßig die Schule. Zugleich wachsen Verantwortung und
Einfluss der Dorf-, Gemeinde- und Kreisräte (Panchayate), die für die Umsetzung der Projekte
sorgen. Da das Gesetz festlegt, dass 33 Prozent der Stellen an Frauen zu vergeben sind, verbessert
sich deren ökonomische Position. Ein festes, wenn auch geringes Einkommen fördert die Kaufkraft
auf dem Lande und regt zum Sparen an. Mehr Familien wird ein sonst unerschwinglicher Arztbesuch
möglich.
Im rajasthanischen Distrikt Rajsamand werden im Rahmen von NREGA Alphabetisierungskurse für
Erwachsene abgehalten. Die Organisation »Prathan« unterrichtet die Frauen in den Arbeitspausen.
Im Februar verfügte die Regierung eine zeitweilige Ausweitung des Beschäftigungsprogramms auf
Arbeitslose aus der Bauindustrie, die wegen der wirtschaftlichen Krise aus den Städten in ihre Dörfer
heimkehren.
Natürlich ist auch NREGA nicht ohne Fehler und Schwächen. Die größten sind Korruption und
Betrug. Die Auszahlung der Löhne durch Banken und Postämter sollte dem einen Riegel
vorschieben. Doch Mittelsmännern, sogenannten Kontraktoren, und Beamten öffneten sich dank der
Unwissenheit der Lohnempfänger neue Wege zur persönlichen Bereicherung. In manchen
Gegenden warten die Arbeiter seit sechs Monaten auf ihre Löhne. Andere werden unterbezahlt. So
wird die Forderung immer lauter: »Pakka kaam, pakka daam.« Das bedeutet: »Für gute Arbeit guten
Lohn.«
Schwächen offenbaren sich jedoch auch auf der Seite der Arbeiter. Bei den indigenen Stämmen der
Garasias, die in Rajasthan und Gujarat leben, rund 70 Prozent von ihnen unter der Armutsgrenze,
gaben die Männer bis zu 60 Prozent ihres NREGA-Einkommens für Alkohol aus. Den Gewinn
machten die Schnapshändler. Die Stammesältesten setzten unlängst mit einer öffentlichen
Zeremonie ein Alkoholverbot durch.
Doch das alles ändert nichts an der Bedeutung dieses Programms, dessen Reichweite nach
Einschätzung des ehemaligen Generaldirektors des Nationalinstituts für ländliche Entwicklung, Lalit
Mathur, die »Grüne Revolution« Indiens der 60er und 70er Jahre übertrifft. Millionen Indern im
ländlichen Raum ermöglicht es einen ersten Schritt aus der Misere, die sich bislang im Selbstmord
von hunderttausenden Kleinstbauern, in Hunger, Unterernährung, Krankheiten und sozialer
Rückständigkeit manifestiert.
Arbeiten, um den Hunger zu betäuben
»Nooru Rojula Pani, die Hunderttagearbeit, hält uns am Leben«, sagt der 70 Jahre alte Gadasu
Ramulu im Dorf Tatikolu im südindischen Unionsstaat Andhra Pradesh. Er ist mit Erdarbeiten
beschäftigt. »Das fällt mir nicht leicht in meinem Alter und bei diesen Witterungsbedingungen. Doch
die hohen Lebensmittelpreise verhindern, dass ich mich satt essen kann. Ich muss arbeiten, um
meinen Hunger zu betäuben«, klagt er. Seine Frau Anjamma, 65 Jahre alt, ist ebenfalls im NREGA
beschäftigt. Sie wässert den Boden, um ihn vor dem Ausschachten etwas aufzuweichen. »Ohne das
Programm hätten wir nichts zu essen. Daran gibt es keinen Zweifel«, sagt sie. Den Jüngeren wäre
eine ordentlich bezahlte Vollzeitbeschäftigung natürlich lieber. Doch ein Nachbar Ramulus zitiert
dazu ein Sprichwort: »Anstatt nach Milch zu laufen ist es besser, still zu stehen und Wasser zu
trinken.« Die deutsche Entsprechung wäre wohl: »Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube
auf dem Dach.«
* Aus: Neues Deutschland, 9. Mai 2009
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