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Indien: Überraschendes Ergebnis der Parlamentswahlen

Votum gegen Hindunationalismus und Neoliberalismus - Gandhi versprich "säkulare" Politik - Pressestimmen

Die Überraschung konnte kaum größer sein: Nachdem der regierende Ministerpräsident und dessen hindunationalistische Partei in allen Prognosen als sicherer Sieger bei der indischen Parlamentswahl gehandelt worden waren, waren am 13. Mai 2004, dem Tag der Stimmauszählung, Trauer im Regierungslager und Freude bei der Opposition angesagt. In der, wie es immer so schön heißt, "größten Demokratie der Welt" haben die mehr als 600 Millionen Wähler/innen den Demoskopen eine Nase gedreht und sich für die Kongresspartei der "Italienerin" Sonia Gandhi entschieden. Ob sie indessen eine Wende vor allem in der Innen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik des Landes wird einleiten können (oder wollen), muss abgewartet werden.

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einer Reihe von Pressekommentaren, deren Verfasser alle mehr oder weniger vom Wahlergebnis überrascht wurden. Entsprechend wird nach Erklärungen für das letztlich doch eindeutige Wählervotum für die Partei mit der ehrwürdigen Tradition gesucht.
Pst



"Die Dynastie ist zurück", betitelt Rolf Paasch seinen Kommentar in der Frankfurter Rundschau und er gibt auch einen wichtigen Grund an, woran das wohl liegen mag:

Indiens Demokratie leuchtet. Nicht in den Safranfarben der Hindupartei von Premier Vajpayee, wohl aber durch die säkulare Ausstrahlung einer Sonia Gandhi. Die Dynastie also ist zurück. Und dies mit einem Programm, das sich statt um die prosperierende Mittelklasse in den Städten um die 600 Millionen Inder auf dem Land zu kümmern verspricht. Die BJP hatte sich von der eigenen Propaganda blenden lassen, dass sich mit einer dem starken Monsun geschuldeten Wachstumsrate von über zehn Prozent und dem Boom in der Informationstechnik die Wahl mühelos gewinnen lasse. Dabei übersahen die Parteigranden um Vajpayee, was in dieser größten Demokratie der Welt die Wähler bewegt.
Exemplarisch die Schlappe der Regierungskoalition NDA bei den parallel angesetzten Regionalwahlen im Bundesstaat Andra Pradesh. Nicht die erträumte Biotech-Zukunft oder das Lob der Weltbank für den dortigen Regierungschef Digvijay Singh, sondern die Selbstmorde überschuldeter Bauern bestimmten am Ende den Wahlausgang. (...)
Die Frage ist, ob eine links-säkulare Koalition unter Sonia Gandhi das zu leisten vermag, woran die NDA Vajpayees jetzt gescheitert ist: ein Wachstumsmodell zu entwickeln, in dem auch die 300 Millionen Inder, die derzeit von weniger als einem Dollar am Tag leben, einen Weg aus der Armut finden.

Aus: Frankfurter Rundschau, 14. Mai 2004

Auch für Sven Hansen von der taz war "Das Nein aus den Dörfern" ausschlaggebend für das überraschende Wahlergebnis.

(...) In Indien hat sich im letzten Jahrzehnt eine kaufkräftige Mittelschicht herausgebildet, und die Softwareindustrie erlangte Weltruhm. Doch die Wahlen werden immer noch in den Dörfern entschieden, wo weiterhin die Bevölkerungsmehrheit lebt. Dort geht es weniger um die umstrittene Ideologie der als "Hindufaschisten" beschimpften BJP als vielmehr um die gerechte Teilhabe an den Früchten der Entwicklung. Die Landbevölkerung aber fühlt sich nicht nur vom Boom in den Städten abgekoppelt, sondern sieht sich auch als Opfer der Globalisierung. "India shining", der Wahlslogan der BJP, klingt für viele Not leidende Bauern wie Hohn.
(...) Doch die Protestwahl der Dörfer traf nicht nur die BJP, sondern auch einzelne Oppositionelle. Wer wie die Chefminister von Andhra Pradesh und Karnataka als Hightech-Guru für die Ansiedlung der IT-Industrien gesorgt und damit Hyderabad und Bangalore zu weltbekannten Boomtowns gemacht hat, zugleich aber die Bauern vernachlässigt, wurde in den Dörfern gnadenlos abgestraft. Die eigentliche Botschaft dieser Wahlen ist: Indiens Landbevölkerung verlangt Gehör. Computer sind nicht alles.

Aus: taz, 14. Mai 2004

Der Südasien-Korrespondent der "jungen Welt", Hilmar König, war wohl nicht weniger überrascht vom Wahlausgang als viele seiner Kolleginnen und Kollegen. Wie ein "Phönix aus der Asche" habe sich die Kongresspartei zurückgemeldet.

(...) Das Wahlresultat vom Donnerstag lehrt zunächst eines: Der indische Wähler ließ sich nicht von der BJP-Propagandakampagne »India shining« blenden. Und er ließ sich auch kein »Wohlgefühl« einreden. Vielmehr durchschaute er den Personenkult um Vajpayee, der von seiner Partei schon als »Führer von der Statur Nehrus« hochgejubelt worden war.Die Mehrheit ging den Hindufundamentalisten nicht auf den Leim. Selbst in Gujarat, einer ihrer Hochburgen, gaben nahezu 50 Prozent der Bürger ihre Stimme der Kongreßpartei. Bei der Stimmabgabe entschied nicht der Schein, sondern das Sein. Zu dem gehört, daß sich die Mehrheit mit den Problemen des Alltags herumschlagen muß: kein Strom, kein Wasser, kein Job, keine Schule für die Kinder, kein Arzt. Zumindest trifft das auf weite Teile der ländlichen Bevölkerung zu – sie macht 70 Prozent aller Inder aus. Deren Stimmen galten besseren Lebensverhältnissen. Sie richteten sich zugleich gegen die BJP, deren gesellschaftliche Entwicklungsstrategie die urbane Mittelklasse zum Subjekt hat.
Sonia Gandhi triumphierte. Fast im Alleingang hatte sie den Wahlkampf bestritten, war in sommerlicher Hitze kreuz und quer durch das Land gereist, hatte in holprigem Hindi die Argumente der BJP gekontert und der armen Bevölkerung Versprechungen gemacht. Ob sie allerdings Ministerpräsidentin Indiens wird, ist nicht entschieden. Das Urteil darüber fällt eine sich derzeit erst formierende säkular-demokratische Allianz, die voraussichtlich die neue Regierung bilden wird. Und dabei werden die Linken ein entscheidendes Wort mitreden. Diese schnitten ebenfalls phänomenal gut ab, nicht nur in ihren Bastionen Westbengalen, Tripura und Kerala, sondern auch in Andhra Pradesh und Tamil Nadu – voraussichtlich erreichten sie über 50 Abgeordnetenmandate. So stark vertreten waren sie nie zuvor im Parlament. Auch das sollte eine Lektion für viele Politiker und die bourgeoise Presse sein: Linke Ideen sind im Volk noch immer relevant.

Aus: junge Welt, 14. Mai 2004

Die Berliner Zeitung (Kommentator: Willi Germund) interpretiert den Wahlausgang u.a. mit der Angst der Menschen vor weiteren religiösen Exzessen, für welche die hindunationalistische Regierungspartei mitverantwortlich gemacht wird.

(...) Die Kongresspartei mag einen Teil ihres Erfolgs den Bemühungen von Sonja Gandhi zu zuschreiben. Aber das sensationelle Comeback ist eher ein Zeichen für die panische Sorge, die die indische Bevölkerung angesichts der erschreckenden Taten und Pläne der Hindunationalisten und ihrer Verbündeten befallen hat.
Vajpayees Sündenregister ist lang. Im westindischen Staate Gujarat wurden über 2.000 Moslems verbrannt und erstochen, weil es in das Kalkül seiner "Bharatiya Janata Party" (BJP) passte. Die BJP-Kandidaten verloren in diesen Gebieten. Vajpayee hatte die Geschichte des Landes umschreiben lassen. Im Bundesstaat Madhya Pradesh gehörte zu den ersten Amtshandlungen von Vajpayees Parteifreundin Uma Bharti als Ministerpräsidentin die Bildung des Ministeriums für Kuhwohlfahrt, das sich nicht nur um das Wohlergehen der Vierbeiner, sondern auch um die medizinische Verwertung von Kuhurin kümmern sollte. Kuhfladen an den Wänden, so ein Wahlkampfpapier der Hindunationalisten, würden nicht zuletzt auch gegen Radioaktivität und pakistanische - also muslimische - Atombomben schützen.
Indiens Wähler lassen sich nicht für dumm verkaufen. Aber weder dieses Sündenregister, noch das nukleare Wettrüsten, das Vajpayee in Südasien entfachte, noch das Verhältnis zum ewigen Feind Pakistan gaben den Ausschlag für die hindunationalistische Wahlpleite. Die Botschaft der überwiegenden Mehrheit der Wahlbevölkerung lautet vielmehr: "Hallo, wir sind auch noch da." Die Händler- und Brahmanenpartei BJP hatte sich zu sehr auf ihre Klientel konzentriert. Mit der Förderung der Computerindustrie entzückte sie die urbane Mittelklasse und ausländische Konzerne auf der Suche nach Niedriglohnländern.
Die Mehrheit der Wähler aber befindet sich auf der Suche nach dem kleinen bischen Wohlstand knapp über der Armutsgrenze. Die mittelstandszentrierte Politik der BJP, könnte die wirklich Armen, so deren Furcht, endgültig abhängen.(...)
Der Kongress startete Anfang der 90er-Jahre Indiens Reformen nicht aus Liebe zu Land und Leuten, sondern weil er musste. Die Kommunisten, die nun erstmals in der indischen Geschichte an einer Regierung in Delhi beteiligt werden, haben den größten Teil ihres sozialistischen Ideenguts längst der kapitalistischen Wirklichkeit geopfert. Aber der schier aussichtslose Versuch, die unbestrittene Notwendigkeit weiterer Wirtschaftsreformen mit den Ansprüchen der Land- und minderbemittelten Bevölkerung zu vereinbaren, wird zur Zerreißprobe für den Kongress. (...)

Aus: Berliner Zeitung, 14. Mai 2004

"Nehrus Zauber" habe seine Hände beim Wahlergebnis im Spiel gehabt, meint Eric Frey im Wiener "Standard" ("Magische Demokratie"). Eine offene Frage - und ein großes Risiko für Indien - sei die Tatsache, das Sonia Gandhi nur wenig politische Erfahrung besitze.

(...) Sonia Gandhi hat mit großem Einsatz um jede Stimme im Riesenland gekämpft, doch die Menschen kamen weniger, um die gebürtige Italienerin mit starkem Akzent über aktuelle Probleme des Landes reden zu hören, sondern um ein leibhaftiges Mitglied von Indiens erster Familie zu sehen. Ihre Kongress-Partei steht so ziemlich ohne Ideologie, ohne Programm und ohne Führung da, sie ist fürs Regieren kaum vorbereitet. Aber im Nachhinein hat sich die Entscheidung der Parteigranden, alles auf den Namen Gandhi zu setzen, als goldrichtig erwiesen.
(...) Indien hat mit der reibungslosen Ablöse der BJP erneut seine hohe politische Reife bewiesen. Trotz großer Armut und gelegentlicher Gewaltausbrüche funktioniert die Demokratie, wenn es wirklich darauf ankommt. Die wachsende elektronische Vernetzung des Landes kompensiert dabei zum Teil den hohen Analphabetismus und die Rückständigkeit.
Ein klares politisches Mandat hat Gandhi nicht gewonnen, aber das kann in dieser Situation sogar ein Vorteil sein. Denn eine Abkehr vom Kurs der Wirtschaftsliberalisierung, der unter ihrem Gatten Rajiv einst eingeleitet wurde, wäre ein katastrophaler Fehler, der auch den Ärmsten des Landes wenig nutzen würde. Die erfolgreichen Kommunisten könnten sich als schwieriger Partner erweisen, aber in ihrer Hochburg Kalkutta haben sie sich zuletzt ähnlich wirtschaftsfreundlich gezeigt wie ihre chinesischen Genossen. Die freundlichen Reaktionen der Börse in Bombay und Pakistan auf den Machtwechsel zeigen, dass niemand mit drastischen Veränderungen rechnet. Indiens größtes Risiko ist in diesem Moment Sonia Gandhis fehlende politische Erfahrung. Im harten Regierungsalltag wird ihr der Zauber Jawaharal Nehrus wenig nützen.

Aus: DER STANDARD, 14. Mai 2004

In eine ähnliche Richtung geht der nächste Kommentar. Den "unerwarteten Machtwechsel in Indien" sieht die Neue Zürcher Zeitung mit konservativer Gelassenheit. Weder an der Reformpolitik im Inneren noch an der Außenpolitik werde sich etwas ändern. Die Kongresspartei sei zwar von den Unzufriedenen, den Arbeitslosen, der ländlichen Bevölkerung gewählt worden, eine Alternative zum bisherigen wirtschaftsliberalen Kurs könne sie indessen auch nicht vorweisen.

(...) Wenn die vernichtende Niederlage der BJP auch überraschend kommt, so ist sie doch nachvollziehbar. Die Hindu-Nationalisten haben in der vergangenen Legislaturperiode durch Liberalisierungen, Privatisierungen und Reformen wirtschaftlich viel erreicht. Mit acht Prozent Wachstum gehört Indien heute zu den prosperierendsten Volkswirtschaften. Vor allem im IT- und im Softwarebereich tätige Firmen, aber auch viele Dienstleistungsbetriebe erlebten einen wahren Boom.
Von diesem Aufschwung hat bisher jedoch nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung profitiert. Eine Million Inder arbeiten heute in klimatisierten Büros von Computerfirmen und Call Centers, 600 Millionen Menschen leben dagegen weiterhin in ärmsten Verhältnissen auf dem Land, oft ohne Zugang zu Strom und sauberem Wasser.
Die Niederlage der BJP ist wohl in erster Linie mit der Unzufriedenheit der vernachlässigten ländlichen Bevölkerung zu erklären. Während sich die Regierungspartei im Wahlkampf mit ihren wirtschaftlichen Erfolgen brüstete, präsentierte sich die Kongresspartei als soziale Alternative, als Vertreterin der Armen und Benachteiligten.
Diese Rechnung ist aufgegangen. (...)
Freilich darf auch nicht vergessen werden, dass Wahlen auf dem Subkontinent einen ausgeprägt lokalen Charakter haben. Unter dem indischen Majorzsystem ist der Erfolg der grossen Parteien auf nationaler Ebene weniger von der Parteiführung als von den Kandidaten vor Ort abhängig.
Zudem spielen in den einzelnen Wahlkreisen Bündnisse und Absprachen mit den zahlreichen - auf Regionen, Sprachen und Kasten basierenden - Kleinparteien eine entscheidende Rolle für das Abschneiden der wenigen landesweit vertretenen Parteien. (...)
(...) Nach dem überwältigenden Wahlerfolg ist die Führungsrolle Sonia Gandhis nun vorerst einmal unbestritten, und es wird sich bald zeigen, ob sie das Zeug zur Regierungschefin hat. Die Herausforderungen sind gross. Auch wenn sich Indien heute auf gutem Weg befindet, bleibt noch viel Arbeit zu leisten. Wenn das Land einmal für all seine Bürger "leuchten" will, müssen die Reformen entschieden vorangetrieben werden.
Dazu sind allerdings unpopuläre Entscheide - insbesondere im Agrarsektor - nötig. Doch wenn die Kongresspartei die Landwirtschaftsreform nicht in Angriff nimmt, aus Angst, sich bei der ländlichen Bevölkerung unbeliebt zu machen, dann wird sich deren Lage längerfristig kaum verbessern.
(...) Der Kurs der neuen Koalition wird sich kaum grundlegend von jenem der BJP unterscheiden. Die Kongresspartei hat im Wahlkampf betont, im Falle eines Sieges an der Reformpolitik festzuhalten. Auch in der Aussenpolitik wird sie kaum vom eingeschlagenen Pfad - der strategischen Partnerschaft mit den USA und der Annäherung an Pakistan - abweichen. Dies stimmt optimistisch für die Zukunft Indiens. spl.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 14. Mai 2004

Arne Perras sieht im indischen Ereignis gar eine "Globalisierungs-Wahl". So lautet auch die Überschrift zu seinem Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung. Darin heißt es u.a.:

(...) Die Wahl geriet für die Hindu-Nationalisten (BJP) zum Debakel und für die Welt zum Lehrstück für die politische Dynamik der Globalisierung. Indien, zerrissen zwischen Armut und High-Tech, sucht nach seinem Weg in die Moderne. Auf dem Subkontinent finden sich Nutznießer, aber auch viele Verlierer der globalisierten Wirtschaft. Im Votum zeigt sich die Kluft in der Gesellschaft - so klar wie selten zuvor.
Die Hindu-Nationalisten setzten auf einen simplen Slogan: "Indien glänzt." Geht BJP wählen und fühlt euch wohl - das war die Botschaft, die von Premier Atal Bihari Vajpayee unters Volk gebracht wurde. Manche seiner Minister riefen sogar schon das "goldene Zeitalter" aus - natürlich unter der Führung der BJP. Doch die schillernden Bilder verfingen nicht. Der aufgeblasene Kraftprotz BJP schrumpfte zum kleinlauten Hänfling. (...)
(...) Indien mag mancherorts eindrucksvoll glänzen. Kaum ein ausländischer Staatsgast, der sich eine Pilgerreise in die IT-Tempel von Hyderabad oder Bangalore entgehen lässt. Aber Indien ist trotz dieses Booms ein Land des Elends geblieben, der Wohlstand blüht nur auf einigen Inseln. In den Slums der Großstädte rackern die Menschen für ein paar Rupien, sie versinken in Müll und Dreck. Auf dem Land müssen die Bauern buckeln und knechten, um ihre Familien durchzubringen. Manche werden in den Selbstmord getrieben, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Schulden abtragen sollen. Jeder dritte Inder muss mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Für all diese Menschen muss der Slogan "Indien glänzt" wie blanker Zynismus geklungen haben. Kein Wunder, wenn sie sich von so einer Partei abwenden. Da half auch die große Popularität nichts mehr, die Premier Vajpayee in der indischen Mittelschicht genießt.
(...) Das Ergebnis verweist auf ein tief wurzelndes Problem - es hat vor allem mit dem schwierigen Umbau der indischen Ökonomie zu tun. Die Globalisierung beschert Indien tatsächlich große Wachstumschancen, doch davon profitieren bislang die Ärmsten am wenigsten. Während der Wohlstand der Mittel- und Oberschichten wächst, darben mehrere hundert Millionen Menschen in afrikanischen Verhältnissen.
(...) Die Kongress-Partei, die nun erst einmal ihren unverhofften Sieg verdauen und eine stabile Koalition zusammen führen muss, wird mit dem Umbau der Wirtschaft womöglich noch mehr zögern. Denn sie versprach im Wahlkampf mehr soziale Gerechtigkeit, was auch ihren Sieg beförderte. In ihrer mehr als 40-jährigen Regierungszeit vor dem Aufstieg der BJP hat die Kongress-Partei den sozialen Ausgleich nie mit besonderem Ehrgeiz vorangetrieben. Jetzt wird sich die Partei stärker für die Armen einsetzen müssen, wenn sie den Kredit der Wähler nicht gleich wieder verspielen will.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 14. Mai 2004

Die "Times of India" zieht aus dem indischen "Purzelbaum" einen ähnlichen Schluss: nämlich dass sich die Wähler für eine Politik der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen "Inklusion" und gegen die Rhetorik der Spaltung und Fremdenfeindlichkeit entschieden hätten. Die Schmutzkampagne der Hindunationalisten gegen die ausländische Herkunft der Oppositionspolitikerin hat nicht ihr, sondern Vajpayee geschadet. Sonia Gandhi wurde von vielen Menschen als eine der ihren, als Vertreterin der Benachteiligten und Unterdrückten angesehen. Entsprechend wird nun auch eine politische Wende erwartet. Im Leitartikel ("India Somersaulting") heißt es u.a.:

(...) In the event, it was a near-unanimous verdict for the politics of inclusiveness - economic, social and cultural - and against the rhetoric of divisiveness and xenophobia.
Indeed, it was the BJP’s relentless ‘feel-good’ hype and its anti-Sonia videshi invective that ultimately pushed the other ‘un-shining’ India towards the perceived underdog - the written-off Congress Party.
Nowhere was this perhaps more evident than in Gujarat and Tamil Nadu, where the two chief ministers ran a one-point virulent campaign against the Italian bahu.
Sonia emerged as the wronged widow offering herself and her children as champions of the marginalised and oppressed. In retrospect, the early undercurrent in favour of change was perhaps first felt on the day Rahul Gandhi, all of 33, filed his nomination for the Amethi seat.
(...) Jyotiraditya Scindia in Guna, Milind Deora in Mumbai, Sachin Pilot in Dausa - it was GenNext of politics picking up the baton. But it was not all soft sentiment. Hard factors were at play too.
Rural drought and unemployment undid the fortunes of many smug incumbents basking in the surreal sun of ‘India Shining’. In other words, the track record of the incumbent governments was also an important factor.
To the extent Sonia Gandhi - reviled and abused by her opponents and dismissed as a political neophyte by the all-knowing pundits in the media - grasped this message, the credit for the unlikely victory should certainly go to her.
Rising from political wilderness, the Sonia-led Congress showed that it had the grit and the gumption to be the engine of change. Which is why the emphatic nature of the verdict leaves little doubt about who should lead the government.
Persistent questions about Sonia’s foreign antecedents should be silenced once and for all by the huge groundswell of support for her party. This is the age of ‘liquid nationalism’, where citizenship and allegiance are - or, at least, ought to be - matters of choice rather than descent.
In the Indian case, in keeping with the new demographics, the political shift should also be towards youthfulness and energy. (...)

India Times, may 14, 2004

Zum Abschluss noch einen Auszug aus einem Artikel im Berliner "Tagesspiegel", in dem Ruth Ciesinger die Wahlsiegerin porträtiert. Überschrift: "Ich hatte nie Lust … in die Politik zu gehen."

Darauf wies Sonia Gandhi erst vor kurzem noch einmal in einem Interview hin. Aus nachvollziehbaren Gründen: Anfang der 80er Jahre wurde ihre Schwiegermutter und indische Premierministerin Indira Gandhi von Leibwächtern erschossen, 1991 tötete ein Selbstmordattentäter Regierungschef Rajiv Gandhi – Indiras Sohn und Sonias Mann. Jetzt aber könnte die 57-Jährige selbst die nächste indische Ministerpräsidentin werden.
Damit würde sich eine politisch-familiäre Tradition fortsetzen, die bei dem ersten Premier des Landes beginnt, bei Jawaharlal Nehru, Indiras Vater. Nehru regierte von der Unabhängigkeit 1947 an fast 20 Jahre, seine Kongresspartei stellte rund vier Jahrzehnte die indische Regierung. Auf diese einende Kraft der Dynastie setzten die Parteistrategen, als sie 1998 die unwillige Sonia Gandhi in das Amt der Vorsitzenden drängten. Und entgegen allen Erwartungen setzte sich die auch "Sphinx" oder "das Orakel" genannte Witwe gegen ihre Gegner durch. So ließ sie Widersacher, die wegen ihrer italienischen Herkunft mäkelten, aus der Partei ausschließen, und macht sich nun, ähnlich wie ihre Schwiegermutter in den 70er Jahren, als Kämpferin gegen die Armut und für soziale Gerechtigkeit einen Namen. Und die Dynastie wird vermutlich weiterleben: Rahul und Pryanka Gandhi, die Kinder Sonia Gandhis, stehen bereit. Der Sohn kämpfte um ein Abgeordnetenmandat, die Tochter war bei Wahlkampfauftritten immer mit dabei. Letztere gerieten dann zu Spektakeln wie sonst nur Auftritte von Popstars. (...)

Aus: Tagesspiegel, 14. Mai 2004


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