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Vertrauen verspielt

Indiens Regierung im Umfragetief. Auch Opposition in Korruption verstrickt

Von Thomas Berger *

Würden in den nächsten paar Wochen Wahlen anstehen, dürfte sich Indiens Regierung offenbar nicht die geringsten Chancen auf einen Sieg ausrechnen. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Meinungsumfrage, die das Ansehen der von der Kongreßpartei (INC) angeführten Koalition in Neu-Delhi derzeit im Keller sieht. Insbesondere die Auseinandersetzungen um den Kampf des Aktivisten Anna Hazare um ein nachhaltiges Antikorruptionsgesetz haben die Popularitätswerte der Mannschaft um den 78jährigen Premier Manmohan Singh in den Keller rutschen lassen. Der INC selbst käme nach dieser Umfrage momentan nur noch auf 20 Prozent – ein katastrophaler Wert für Indiens älteste politische Kraft, die einst die Unabhängigkeitsbewegung anführte und seit 1947 mit wenigen Unterbrechungen die Regierungen dominiert hat.

Knapp 9000 Wahlberechtigte in 28 Städten waren befragt worden, und auch wenn die Konzentration auf schneller wechselbereite urbane Wähler das Bild ein wenig verfälscht, gibt es an der generellen Unzufriedenheit mit den derzeit Verantwortlichen doch kaum einen Zweifel. Ähnlich markant wie der Einbruch in der INC-Kurve sind die korrespondierend ansteigenden Werte für die größte Oppositionskraft. Die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) käme demnach auf 32 Prozent. Lediglich im Süden halten sich die Kongreßpartei-Hochburgen, im gesamten Norden liegt die BJP klar vorn.

Dabei haben die Religiös-Konservativen keinerlei fundierte Alternativangebote vorzulegen und verfügen seit Abtritt des einstigen BJP-Premiers Atal Behari Vajpayee über keine Persönlichkeit, die im nationalen Rahmen Ausstrahlungskraft entfaltet. Momentan ist für die rechte Opposition allerdings ausreichend, auf die allgemeine Protestwelle aufzuspringen. Daß BJP-Politiker selbst in Korruptionsskandale verstrickt sind, fällt in der Wahrnehmung scheinbar weniger ins Gewicht.

Ins allgemeine Bild der akuten INC-Krise paßt dabei auch, daß der vermutliche Wunschnachfolger für den greisen Manmohan Singh als Premier selbst in der Einschätzung von US-Diplomaten als »Luftnummer« angesehen wird. Diese Einschätzung ist dieser Tage durch Wikileaks öffentlich gemacht worden. Rahul Gandhi, Sohn von Parteichefin Sonia Gandhi, seit 2007 INC-Generalsekretär, hat sich mit diversen Kampagnen als Anwalt der armen Landbevölkerung mit ihren Nöten in Szene gesetzt. Auch der eloquente 41jährige, der in erster Linie von seinem berühmten Familiennamen zehrt, kann aber derzeit kaum etwas bewirken, um die Kongreßpartei aus dem Jammertal der miesen Umfragewerte zu führen. Sie wird von den aufgebrachten Bürgern für steigende Lebenshaltungskosten und korrupt-verkrustete Strukturen im Staatsapparat verantwortlich gemacht. Das bei der Wahl 2009 vorhandene Vertrauen der Wähler, das der INC-geführte Allianz Stimmenzuwächse brachte, scheint aufgebraucht.

* Aus: junge Welt, 7. September 2011


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