Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein Lob ins Klassenbuch

Indien und Tibet: Balance halten, Contenance wahren, Zurückhaltung üben

Von Ursula Dunckern *

In der Kühle und Ruhe des weißen Marmorsaales eines alten Luxushotels im Herzen Delhis steht an diesem Sonntagnachmittag die Zeit still. Eine geladene Gesellschaft von höflichen höheren Beamten, Diplomaten und Künstlern lauscht andächtig den Meditationen des Dalai Lama zu buddhistischen Mythen. Er fühle sich hilflos, sagt der betagte Mönch zwischendrin niedergeschlagen, so hilflos wie vor 50 Jahren.

Der klammheimliche Empfang des Gastes, von der politischen Öffentlichkeit und medialem Scheinwerferlicht abgeschirmt, charakterisiert den Balanceakt, in dem sich die indische Regierung seit Ausbruch der Tibetkrise übt. In einer offiziellen Stellungnahme bringt Außenminister Pranab Mukherjee nach Tagen verlegenen Drucksens "Betrübtheit" über die "ungewisse Situation und Gewalt in Lhasa" zum Ausdruck und wünscht, "alle Beteiligten" würden den "Trouble" recht bald friedlich ausräumen. Während die Opposition und mit ihr einige Mitglieder der Kongresspartei im Gleichklang mit dem Westen die harte Hand Chinas verurteilen, werden Regierungsvertreter - in ungewohntem Unisono mit den China treuen kommunistischen Parteien - nicht müde zu betonen, es handle sich um eine rein interne Angelegenheit der Chinesen. Die vornehme Dezenz ist nicht allein der eigenen Achillesferse Kaschmir geschuldet.

Bemüht um Fairness gegenüber China, untersagt die Regierung jede Anti-China-Aktivität auf indischem Boden und hält wütende tibetische Exilanten per Polizeiaufgebot im Zaum. In Indien leben mehr als 100.000 Exil-Tibeter, viele davon im nordindischen Dharamsala, dem Sitz der Exilregierung des Dalai Lama. Dort wurden gleich zu Beginn der Unruhen mehr als hundert Menschen verhaftet, die jenseits der indisch-chinesischen Grenze zum großen Protestmarsch nach Lhasa aufbrechen wollten. In Delhi wurden drei Versuche vereitelt, die festungsartige China-Botschaft im schwer bewachten Diplomatenviertel Chanakyapuri zu stürmen.

Für dieses mustergültige Verhalten gab es ein dickes Lob ins Klassenbuch: Premier Wen Jiabao pries das gute Einvernehmen mit seinem indischen Amtskollegen Manmohan Singh in der für beide Länder so "hochsensiblen Angelegenheit".

Den Wasserhahn abdrehen

Delhi hat Tibet bereits 1954 als Teil der Volksrepublik China anerkannt. Als der Dalai Lama 1959 nach einem missglückten Aufstand mit 10.000 Gefolgsleuten Zuflucht in Indien suchte, gewährte ihnen Premier Nehru Asyl, solange sie keine "subversiven Aktivitäten gegen befreundete Länder" verübten. Der Ärger Pekings über die Aufnahme des Asylanten ist bis heute nicht verraucht. 1962 entlud er sich in der unvermittelten Kriegserklärung an das befreundete Indien, just während der indische Botschafter Krishna Menon in London leidenschaftlich für Chinas Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen stritt. Menon stritt ungerührt weiter und war erfolgreich. Schließlich sah sich die indische Politik damals nicht Alltagspragmatik, sondern Prinzipien verpflichtet, auch wenn in Delhi einflussreiche Politiker hin und wieder die Tibetkarte spielten.

Bis heute ist die autonome Provinz eine Metapher für die schwelenden Grenzkonflikte mit China geblieben. So begründet Peking seine Gebietsansprüche auf den nordindischen Staat Arunachal Pradesh - immerhin dreimal so groß wie Taiwan - mit dessen Zugehörigkeit zum alten Tibetischen Reich, obwohl das 1950 zerschlagen wurde. Peking scheint vorerst nicht gewillt, seine Ansprüche aufzugeben, bevor über den Status von Tibet nicht endgültig und in seinem Sinne entschieden ist. Auf der anderen Seite bleibt die Tibetkarte Delhis einziger politischer Trumpf, um dem Reich der Mitte Paroli zu bieten.

Seit einem Jahrzehnt ist das Verhältnis zwischen Indien und China zu fruchtbar wie noch nie. Obwohl die alten Grenzfragen weiter bohren, ist die Volksrepublik heute der größte Handelspartner. Die beiden asiatischen Giganten verbuchten - trotz aller Rivalität auf dem Weltmarkt - 2007 ein Handelsvolumen von 38 Milliarden Dollar, bei einem Zuwachs von sagenhaften 56 Prozent in nur einem Jahr. Delhi will davon nichts aufgeben und vergisst nie, dass ein aufgebrachtes China seinem Nachbarn eines Tages den Wasserhahn abdrehen könnte: Der Fluss Brahmaputra, von dem Hunderttausende von indischen Bauernfamilien abhängen, entspringt bekanntlich in China. In permanenter Sorge, dass ein Teil seines Wassers in den Gelben Fluss abgezweigt werden könnte, besteht Indien seit Jahren auf einen Austausch hydrologischer Daten.

Auch der Drache ist gemeint

Delhi sieht sich in Sachen Tibet auch deshalb zum Balanceakt genötigt, weil ein Abgleich mit US-Interessen unumgänglich ist. Die Regierung Singh tut nicht wenig, um ihre Regionalpolitik mit den geopolitischen Zielen der USA in Einklang zu bringen. Schließlich erwartet man, als strategischer Juniorpartner zur militärisch potenten Großmacht aufgebaut zu werden. Undenkbar ohne die Hilfe der Amerikaner, die im Tibet-Konflikt vorerst auf mehreren Gleisen unterwegs sind. Während vor dem Haupttempel in Dharamsala die Tibet-Flagge und das Sternenbanner im kühlen Bergwind symbolträchtig Seite an Seite flattern und Nancy Pelosi als Sprecherin des US-Repräsentantenhauses das tibetische Feuer mit moralischer Entrüstung schürt, teilt das Weiße Haus unbeeindruckt mit, Präsident Bush werde sich einen Besuch beim olympischen "Sportereignis" nicht nehmen lassen.

Ohne auf die Tibetkarte zu verzichten, arbeitet die US-Regierung derzeit auf Hochtouren, um China zu einem der wichtigsten strategischen Partner zu machen. Die Asien-Reisen von Außenministerin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Robert Gates im Februar zielten auf nichts weniger als den "Aufbau einer komplett neuen Sicherheitsarchitektur in der erweiterten Region Ostasien" (Gates). Nicht nur Indien und Indonesien sollen in ein US-geführtes multilaterales System eingebunden werden, auch an den chinesischen Drachen ist gedacht, der in einem demnächst stattfindenden Kapitel der Weltgeschichte unter Washingtons Fittiche genommen werden soll. Ein ehrgeiziger und verwegener Plan - nicht nur Delhi hat Schwierigkeiten, sich darauf einzurichten. Eruptionen wie in Tibet kommen in einer solchen Phase des Aufbruchs zu neuen Horizonten eher ungelegen.

* Ursula Dunckern arbeitet als freie Publizistin und Pressereferentin für Rationalist International in Delhi.

Aus: Freitag 13, 28. März 2008



Zurück zur Indien-Seite

Zur China-Seite

Zurück zur Homepage