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Kaschmir war das Motiv der Terroristen

Überlebender Mumbai-Attentäter vor Gericht

Von Hilmar König, Delhi *

Wie Chefankläger Ujjwal Nikam am Wochenende mitteilte, haben die Ermittlungen gegen Ajmal Amir Kasab, den einzigen überlebenden Angreifer der Terrorattacken vom 26. November 2008 in Mumbai, 1820 Augenzeugen erfasst. Aus Sicherheitsgründen tagt das Gericht seit der Vorwoche innerhalb eines Gefängniskomplexes.

In dem Prozess im Gefängniskomplex von Mumbai geht es um zwölf Attacken an jenem 26. November, darunter Angriffe auf den Victoria-Bahnhof, mehrere Luxushotels, ein Restaurant und ein Krankenhaus. Im Verlaufe von fast 60 Stunden töteten zehn Terroristen rund 170 Inder sowie etliche Ausländer und verletzten hunderte Bürger. Die Sicherheitskommandos töteten schließlich neun der Verbrecher, Ajmal Amir Kasab ist der einzige Überlebende.

109 Zeugen sind in seinem prozess zur Anhörung vorgeladen, darunter ein Zeitungsfotograf und ein Kameramann, die an den Tat-orten Aufnahmen von Kasab gemacht hatten. Um dessen Verteidigung gab es ein monatelanges Tauziehen. Der Anwaltsverband Mumbais hatte seine Mitglieder dazu aufgerufen, die Verteidigung zu boykottieren. Auf ein Gesuch des Angeklagten, einen pakistanischen Verteidiger zu bestellen, reagierten die Behörden des Nachbarlandes nicht, obwohl Islamabad inzwischen die pakistanische Staatsangehörigkeit Kasabs anerkannt hat.

Die indische Anwältin, die schließlich mit der Verteidigung beauftragt worden war, musste unter Polizeischutz gestellt werden, weil ein Mob fanatisierter Hindus ihre Wohnung in Mumbai zu stürmen versuchte. Sie forderten, den Verbrecher umgehend hinzurichten, da es an seinen Taten keinen Zweifel gebe. Kurz vor Eröffnung des Prozesses wurde diese Anwältin zurückgepfiffen, weil sie verheimlicht hatte, dass sie zugleich eines der Opfer juristisch vertreten wollte.

Der jetzige Verteidiger Kasabs äußerte die Ansicht, sein Mandant habe die Schwere des Verbrechens gar nicht verstanden. Abgesehen von der hohen Zahl der Todesopfer und der Verletzten sowie der beträchtlichen materiellen Schäden hatte dieses exakt geplante und nahezu militärisch durchgeführte Kommandounternehmen die Unterbrechung des Friedensdialogs zwischen Indien und Pakistan zur Folge. Delhi will erst dann wieder Gespräche, wenn Pakistan die Hintermänner der Anschläge zur Verantwortung gezogen und seine »terroristische Infrastruktur« beseitigt hat.

Der Angeklagte versuchte gleich zu Prozessbeginn, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem er sein am 17. Februar auf 40 Seiten verfasstes Geständnis widerrief. Es sei aus ihm »herausgeprügelt« worden, er sei mit Gewalt zur Unterschrift gezwungen worden. Ohnehin sei dieses Gericht für ihn gar nicht zuständig, da er 17 Jahre alt und also minderjährig sei. Laut Geständnis ist er jedoch am 13. September 1987 geboren und demnach 21 Jahre alt. Da es genügend technisches Beweismaterial gibt -- Fingerabdrücke, DNA-Proben aller zehn Terroristen, ein aufschlussreiches Tagebuch und fünf Geräte zur globalen Positionsbestimmung --, wird sich nach Ansicht des Chefanklägers der Widerruf des Geständnisses nicht sonderlich auf den Prozessverlauf auswirken. Mit der Auswertung technischer Daten sind fünf FBI-Spezialisten befasst.

Zwei Passagen in Kasabs Geständnis haben in Indien für Schlagzeilen gesorgt. Sein Komplize Ismail Khan alias Abu Ismail habe auch vorgehabt, auf Mumbais Malabar Hill zu gelangen, wo sich die Residenz des Chefministers und das Gebäude des Gouverneurs des Unionsstaates Maha-rashtra befinden. Zu den Motiven seiner Bluttat äußerte Kasab, die Auftraggeber Amir Hafiz Saied und Zakiur Rahman Lakhvi hätten davon gesprochen, dass »alle Mudschaheddin für die Befreiung Kaschmirs kämpfen müssen«. Man kämpfe seit 15 Jahren um Kaschmir, aber die indische Regierung gebe Kaschmir nicht frei. »Jetzt müssen wir Krieg gegen Indien führen und Kaschmir erobern.«

Diese Aussage bezeichnete der Chefankläger als das »größere Motiv der Attacken« und als »ein ausdrückliches Ziel der Verschwörung«. Der leitende Kriminalbeamte Rakesh Maria erklärte vor den Medien, Kasab verfüge nur über ein begrenztes Wissen über diese Verschwörung: »Wir haben ein Glied, aber nicht den Kopf, der hinter den Anschlägen steckt.«

* Aus: Neues Deutschland, 21. April 2009


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