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Tata verliert in Singur

Indiens Industriegigant in die Knie gezwungen. Billigauto Nano wird ersatzweise nun wohl in Uttarakhand gebaut. Konkurrenten legen nach

Von Thomas Berger *

Als »unglückliche Entwicklung« und »sehr schlechte Nachrichten für Westbengalen« hat Nirupam Sen die Entscheidung des Industriekonzerns Tata kommentiert, die Arbeiten am Automobilwerk Singur einzustellen. Sen ist Industrieminister des indischen Bundesstaates, in dem das Billigauto Nano im Oktober in Serie gehen sollte. Das wird nun wohl nicht in dieser Stadt gebaut. Auch wenn die linke Regionalregierung in Kolkata (Calcutta) einen letzten Vermittlungsversuch durch den Gouverneur starten will, scheinen die Gegner der Fabrik mit ihren Protesten gesiegt zu haben. In den Chefetagen von Tata Motors laufen längst Alternativplanungen, um wenigstens annähernd im selbstgesteckten Zeitplan für den Produktionsstart des »preisgünstigsten Pkw der Welt« (Eigenwerbung) zu bleiben.

Gleich mehrere indische Unionsstaaten und sogar das südliche Nachbarland Sri Lanka haben inzwischen Interesse angemeldet, den Ausweichstandort stellen zu dürfen. Doch die wahrscheinlichste Variante besagt indischen Medien zufolge, daß der Nano nun in der Stadt Pantnagar produziert wird. Die existierende Anlage im jungen nordindischen Unionsstaat Uttarakhand (er wurde erst 2000 aus einer Abspaltung von Uttar Pradesh gebildet) in der Grenzregion zu Nepal bietet sich geradezu an. Die Produktionsstätte ist selbst noch sehr neu und mit überschaubaren Erweiterungen offenbar schnell auf diese Herausforderung einzustellen. Schließlich läuft in Pantnagar bereits der Ace, ein beliebter Pick-up aus dem Hause Tata-Motors, vom Band. Eine zweite Produktionsschiene zu etablieren, wäre mit geringem Kosteneinsatz und in kurzer Zeit möglich, wie indische Medien schrieben.

Lediglich 100000 Rupien, umgerechnet etwa 1800 Euro, soll der im Januar auf der Automobilmesse Delhi von Konzernchef Ratan Tata vorgestellte Kleinwagen Nano kosten - ein Prestigeprojekt. Deshalb will er wohl die Zitterpartie in Singur nun beenden. Zwar hat der Konzern umgerechnet an die 270 Millionen Euro in den Aufbau des westbengalischen Standorts gesteckt, und die Anlage ist mehr als zur Hälfte fertig. Gegen den massiven Widerstand der lokalen Bevölkerung hat er nun aber den Kürzeren gezogen.

Allerdings ist der indische Wirtschaftsmogul nicht der einzige, der hierbei besiegt wurde. Die jüngste Entscheidung ist auch ein überaus schmerzlicher Denkzettel für die Wirtschaftspolitik der bengalischen Linksregierung unter Chefminister Buddhadeb Bhattacharya.

Verkehrte Welt - so muteten die Verhältnisse in Singur während der vergangenen Monate an. Wo es sonst genau die Parteien der Linksfront sind, die in anderen Teilen Indiens die Proteste gegen umstrittene Industrialisierungsprojekte und dazugehörige fragwürdige Landenteignungen anführen, waren die Seiten in der kleinen Provinzstadt Singur quasi vertauscht. Immer wieder beschworen Spitzenpolitiker aus Kolkata die positiven Folgen der Ansiedlung, die entstehenden Arbeitsplätze und die neue Infrastruktur. Und es war die bürgerliche Opposition in Gestalt von Mamata Banerjee mit ihrem Trinamool Congress (TC), die sich an die Spitze der Widerstandsbewegung stellte, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Mamata, zuvor politisch beinahe in der Versenkung verschwunden, erlebte eine glorreiche Wiedergeburt als Volkstribunin.

Vor allem in der Kommunistischen Partei/Marxistisch (CPI-M), die die Linksfront anführt, sitzt der Schock tief. Der Rückzug Tatas wird bündnisintern die Spannungen zwischen den Koalitionären vertiefen. Nach mehr als drei Jahrzehnten kriselt es in der »roten Bastion« Westbengalen. Während die Schwesterpartei CPI noch am ehesten die Stange hält, sind gerade die kleinen Partner Revolutionäre Sozialistische Partei (RSP) und Vorwärts-Block (FB) unzufrieden mit dem Kurs der Marxisten.

In der Automobilbranche geht unterdessen der heftige Konkurrenzkampf um den am schnellsten wachsenden Automobilabsatzmarkt der Welt weiter. Marktführer Maruti Suzuki, einheimische Tochter des japanischen Konzerns, wartet mit einem gänzlich neuen Motor auf, der ab Oktober in Serie gehen soll. Dieser wird im Werk Gurgaon, etwas außerhalb der indischen Hauptstadt Delhi, produziert. Er ist besonders treibstoffeffizient und schadstoffarm. Damit soll er den »A-Star« antreiben, der in etwa drei Wochen vom Band rollen soll. Mit dem neuen Kompaktwagen will Maruti nicht nur in Indien seinen Spitzenplatz behaupten, der Mutterkonzern Suzuki plant, damit auch auf dem europäischen Markt zu punkten. Insgesamt 90 Milliarden Rupien, (ca. 1,6 Milliarden Euro) hat Suzuki in neue und den Ausbau vorhandener Produktionsstätten auf dem Subkontinent gesteckt.

Auch die anderen Konkurrenten von Tata schlafen nicht. Das gilt auch für den US-Konzern General Motors (GM). Dessen Konzernchef Frederick A. Henderson hat dieser Tage im westindischen Unionsstaat Maharashtra zusammen mit dem dortigen Chefminister Vilasrao Deshmukh das neue Werk Talegaon eingeweiht. In der Region, die als das wirtschaftliche Rückgrat Indiens gilt und wo 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes geschaffen werden, hat GM 300 Millionen Dollar investiert. In dem modernen Werk werden jährlich bis zu 140000 Kompaktwagen der Marke Chevrolet Spark produziert.

* Aus: junge Welt, 5. September 2008


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