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Der absehbare Blackout

In Indien halten die Stromkapazitäten nicht mit dem Energiebedarf Schritt

Von Thomas Berger *

600 Millionen Menschen in 20 Unionsstaaten des indischen Nordens und Ostens standen in dieser Woche für Stunden ohne Strom da. Der größte Blackout seit wenigstens einem Jahrzehnt hat Bürgern und Verantwortlichen die Stromkrise vor Augen geführt, in der das Land steckt.

Als am Montag zunächst in weiten Teilen von neun nördlichen Teilstaaten die Lichter ausgingen, war das schon schlimm genug. Am Dienstagnachmittag gab es aber einen noch schlimmeren Blackout, der rund die Hälfte des Subkontinents betraf. Am Mittwoch meldete der staatliche Stromversorger PSOC, Ingenieure hätten die ganze Nacht über gearbeitet, um die Stromversorgung wiederherzustellen. Der wirtschaftliche Schaden durch den Zusammenbruch von drei großräumigen Versorgungsnetzen lässt sich momentan noch nicht beziffern. Er dürfte aber beträchtlich sein.

Dies gilt auch für den Imageverlust. Der indische Tiger, gemäß offizieller Darstellung und auch im Bewusstsein vieler Einwohner auf dem Sprung zum Anschluss an die »Erste Welt«, kann sein Energieproblem nicht länger verstecken. Egal, was im Einzelnen den Mega-Ausfall verursacht hat: Die Produktionskapazitäten können trotz stetigen Ausbaus nicht mit dem geradezu explodierenden Bedarf Schritt halten. Und oft geht der Kraftwerksneubau zu Lasten der Investition in moderne Leitungssysteme - das Netz ist marode, störanfällig und häufig überlastet. Regelmäßig kommt es zu Abschaltungen oder Unterbrechungen.

So schlimm wie zu Wochenbeginn haben viele Inder es aber noch nicht erlebt. Viele Produktionseinrichtungen wurden lahmgelegt, es kam zu einem Chaos im Verkehrssektor. Zehntausende von Bahnreisenden waren gestrandet, da ihre Züge nicht weiterkamen. Obwohl der Süden Indiens vom Blackout verschont war, reichten die Auswirkungen dorthin, da der Bahnfahrplan bis in alle Ecken des Riesenlandes durcheinander kam. In der Hauptstadt Delhi und andernorts potenzierte sich an vielen Kreuzungen der Stau auf den Straßen, als die Ampeln ausfielen. Und selbst öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser konnten ihren Betrieb nur mittels Notstromgeneratoren aufrechterhalten.

205 000 Megawatt, so lautet nach regierungsamtlichen Angaben die aktuelle Produktionskapazität bei Strom. Diese Zahl hat sich in den zurückliegenden Jahren zwar deutlich erhöht, doch von Vollversorgung, die eigentlich schon für dieses Jahr versprochen war, kann längst keine Rede sein. Der Kraftwerksneubau blieb hinter dem weitaus schneller steigenden Bedarf der Abnehmer zurück. Wirtschaft wie Privathaushalte möchten mehr aus dem System ziehen, als dieses bereitstellen kann. Mit kontrollierten Abschaltungen und Quotierungen für die einzelnen Regionen versuchen die Verantwortungsträger, die Versorgungslücke beherrschbar zu halten. Doch das kann auf Dauer nicht gut gehen. Der bisherige Energieminister Sushilkumar Shinde, der mit der gerade verkündeten Kabinettsumbildung ins Innenressort der Zentralregierung aufgerückt ist, unterstellte einigen Unionsstaaten, mehr als die ihnen zustehende Strommenge abgezogen und damit den Mega-Blackout mitverschuldet zu haben. Aus Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten Gebiet, wurde dieser Vorwurf empört zurückgewiesen.

Ohnehin gehen solche Schuldzuweisungen am Kernproblem vorbei, dass es seit Jahren zu wenig Strom gibt, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Gerade die rasch wachsende Mittelschicht hat daheim sehr viel mehr elektrische Gerätschaften als früher. Stromfressende Klimaanlagen powern unter Volllast, wo sich einst nur ein einsamer Ventilator drehte.

Zwei Drittel der erzeugten Energiemengen kommen in Indien aus fossilen Brennstoffen. Kohle stellt mit 56 Prozent den größten Anteil, Gaskraftwerke liefern weitere zehn Prozent, während die wenigen Atommeiler nur gut zwei Prozent zum Mix beisteuern. Auf Platz zwei liegt mit knapp einem Fünftel die Wasserkraft. Vor allem beim Ausbau der anderen erneuerbaren Energien, derzeit zwölf Prozent stellend, geht es nicht schnell genug voran. So fallen etwa in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu sehr viel mehr Solaranlagen auf den Dächern auf als in indischen Metropolen.

»Energie ist wie Blut in unseren Adern, ebenso wichtig für wirtschaftliches Wachstum«, zitiert die BBC Rajiv Kumar, den Generalsekretär der indischen Industrie- und Handelskammer. Und dass selbst beim hochmodernen U-Bahn-Netz der Hauptstadt Passagiere aus liegen gebliebenen Metrozügen evakuiert werden mussten, ist alles andere als das Bild, das Indien gern der Welt vermittelt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. August 2012

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