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Indien stand fast still

Historischer Tag auf dem Subkontinent: Alle Gewerkschaftsverbände mobilisierten gemeinsam zum Generalstreik gegen neoliberalen Kurs der Regierung

Von Thomas Berger *

Es war eine historische Aktion, und sie hatte mehr als Symbolwirkung: Indische Gewerkschaftsvertreter haben den eintägigen nationalen Streik am Dienstag als Erfolg gewertet. Nach Angaben der Organisatoren legten landesweit etwa 100 Millionen Beschäftigte im öffentlichen wie privaten Sektor die Arbeit nieder. Diese Zahl ist auch deshalb beachtlich, weil nur ein Teil der Arbeiter und Angestellten überhaupt gewerkschaftlich organisiert ist. Erstmals in der indischen Geschichte hatten alle elf großen Gewerkschaftsverbände gemeinsam zu einem Ausstand aufgerufen. Angehörige der beiden großen kommunistischen Gewerkschaften AITUC (All India Trade Union Congress) und CITU (Centre of Indian Trade Unions) beteiligten sich ebenso wie ihre Kollegen der mit der größten Oppositionspartei, der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), verbundenen BMS (Bharatiya Mazdor Sangh). Auch der Indian National Trade Union Congress (INTUC), die Gewerkschaft der die Regierungskoalition anführenden Kongreßpartei (INC), und die Labour Progressive Front der Tamilenpartei DMK aus dem Süden, einem der wichtigsten Koalitionspartner, waren mit von der Partie. Als ebenso außergewöhnlich darf gelten, daß selbst die Gewerkschaftsbünde der hinduextremistischen Shiv Sena und der Muslimliga Teil dieser Einheitsfront waren – zwei Parteien, deren Anhänger sich sonst oft genug mittels gewaltsamer Ausschreitungen begegnen.

Hintergrund des Generalstreiks bildet eine breite Protestfront gegen die »neoliberale Politik« der INC-geführten Regierung von Premierminister Manmohan Singh – die vor allem für die stetig steigenden Lebenshaltungskosten auf dem Subkontinent verantwortlich gemacht wird. Die in den zurückliegenden Monaten regelrecht explodierten Preise für Grundnahrungsmittel belasten nicht nur die Ärmsten der Armen, sondern auch viele Arbeiter stark, die bisher mit ihren Einkünften einigermaßen über die Runden gekommen sind. Jetzt stehen immer mehr Beschäftigte vor der Frage, wie sie bei rapide sinkender Kaufkraft ihrer Löhne und Gehälter noch ihre Familien ernähren sollen.

Vor allem in den größten urbanen Zentren des Landes wie der Hauptstadt Delhi, der Wirtschaftsmetropole Mumbai (Bombay), der zweitgrößten Stadt Kolkata (Calcutta) sowie Ballungsräumen um Hyderabad, Chennai (Madras) und Bengaluru (Bangalore) waren die Auswirkungen des Generalstreiks deutlich zu spüren. Das öffentliche Leben stand größtenteils still. Taxi- und Rikschafahrer folgten dem Streikaufruf ebenso zahlreich wie die Mitarbeiter von Banken – die meisten staatlichen Kreditinstitute blieben geschlossen oder boten nur Notbesetzung an den Schaltern an. Und selbst in etlichen privaten Geldhäusern war der Service stark eingeschränkt. Zudem kam es stellenweise zu Ausfällen im Zugverkehr – die Gewerkschaft AIRF (All India Railwaymen Federation) beteiligte sich ebenfalls an dem Ausstand, und mancherorts war vorsorglich für die staatlichen Bildungseinrichtungen ein freier Tag verordnet worden. In der westbengalischen Regionalhauptstadt Kolkata fuhr immerhin die Metro ohne Einschränkungen, und Chefministerin Mamata Banerjee, wichtige politische Partnerin der Zentralregierung, hatte 1000 Busse von außerhalb in die Stadt beordert, um das Verkehrschaos abzumildern.

Solche Maßnahmen konnten den generellen Erfolg das Ausstandes aber nicht schmälern. Selbst ein Appell von Premier Singh kurz vor der Aktion hatte nicht geholfen. Mit dem Generalstreik haben die Gewerkschaften eindrucksvoll ihre Macht unter Beweis gestellt und zudem gezeigt, daß sie im Ernstfall tatsächlich einmal parteipolitische Loyalitäten und Rivalitäten hintanstellen können.

»Wir hatten der Regierung genügend Zeit gegeben, über die aufgeworfenen Themen nachzudenken. Doch nun war Streik die einzige Möglichkeit«, sprach AITUC-Generalsekretär Gurudas Dasgupta den beteiligten Gewerkschaftern aus dem Herzen. Ihnen geht es neben einer Deckelung der Inflation auch um die Einführung eines national verbindlichen Mindestlohns sowie reguläre Stellen für etwa 50 Millionen Menschen, die als Tagelöhner über keinerlei soziale Absicherung verfügen.

Es sind allerdings nicht nur die steigenden Lebensmittelpreise und das geringste Wirtschaftswachstum seit drei Jahren, die den Gewerkschaftsvertretern und Beschäftigten insgesamt Sorge machen. Kritik gibt es auch an der Öffnung von immer mehr bisher staatlich regulierten Bereichen der Wirtschaft – vor allen solcher der Daseinsvorsorge – für ausländische Investitionen. Auch Staatsbetriebe werden schon seit Jahren zuhauf privatisiert.

* Aus: junge Welt, 1. März 2012


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