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Lernen zwischen Salzfeldern

Migranten-Kinder im indischen Gujarat hungern nach Bildung

Von Ann Ninan, Ahmedabad

Prahladbhai ist der einzige Lehrer an der Anand-Schule, die sich mitten in Little Rann im Gebiet Kutch befindet. Etwas Grün sucht man vergeblich in der sich über 40 Kilometer erstreckenden Einöde im westindischen Bundesstaat Gujarat.

Anand ist keine gewöhnliche Schule. Jedes Jahr wandern Tausende von armen Agarians, Salinenarbeiter, in die Schlammwüste aus, um genau wie vor 100 Jahren Salz zu gewinnen. Für die Kinder der Arbeiter ist Anand der einzige Hoffnungsschimmer, bitterer Armut und Ausbeutung zu entkommen. Dreißig ungewöhnliche Mädchen und Jungen unterschiedlichsten Alters hocken unter einem Schutzdach aus Bambus und Jutesäcken. Prahladbhai flitzt von einer Gruppe zur anderen, schaut über die Schultern der Kinder auf Schiefertafeln und Hefte, schreibt und liest.

»Dieser Junge ist in der siebten Klasse«, sagt er stolz und zeigt auf einen Jungen, der mit überkreuzten Beinen mitten im Dreck sitzt und völlig in seine Aufgaben versunken ist. Acht Monate lang wird Prahladbhai die Kinder unterrichten, um sie auf ihre Abschlußprüfungen an den regulären Schulen ihrer Heimatdörfer vorzubereiten.

Seit Generationen sind die Agaria-Kinder Analphabeten, genau wie ihre Eltern. In den Salzfeldern floriert die Kinderarbeit. Die enormen Fehlzeiten des Salzarbeiternachwuchses und der häufige Ortswechsel führten dazu, daß die Kinder die Dorfschulen verlassen mußten. Dadurch gelangten fast alle in den gleichen Teufelskreis aus fehlender Bildung, bitterer Armut und Not. Nur wenige schafften es, den Kreis zu durchbrechen. Prahladbhai und Savshibhai gehören dazu, trotz ihrer eigenen Vergangenheit als Salzarbeiter.

Beide sind in der abgeschiedenen Salzwüste geboren. Obwohl ihre Großeltern, Eltern und andere Verwandte Salzarbeiter waren, konnten sie zur Schule gehen. In den letzten sechs Jahren arbeiteten sie mit der in Ahmedabad ansässigen Nichtregierungsorganisation Ganatar zusammen. Die NGO initiierte den Aufbau der Schulen.

Noch vor kurzem verdiente Savshibhai sein Geld als LKW-Fahrer. Hunderte LKWs transportieren das gewonnene Salz zu Lagerflächen nach Rann. »Da habe ich mehr verdient«, sagt er, aber er bereue seine Entscheidung, dort aufzuhören, trotzdem nicht. »Eine dankbarere Arbeit als die jetzige gibt es nicht«, so Savshibhai.

Jeden Tag legt er trotz brütender Hitze kilometerweite Strecken mit dem Fahrrad zurück, um die sieben Ganatar-Schulen in der Gegend von Kharagodha, südlich von Rann, zu erreichen. Durch die regelmäßigen Besuche steht er in engem Kontakt zur Gemeinschaft. Wenn die Salzsaison im September beginnt, folgt der Schulorganisator den Agaria-Familien nach Rann, um die Gegend zu erkunden und einen Platz für die Schule festzulegen.

Die Ganatar-Schulen wechseln jedes Jahr ihren Standort und folgen damit den Familien, die nicht länger als zwei Saisons in einer Gegend bleiben. Die Schule entsteht dort, wo sie die meisten Kinder erreichen können. Die Familien leben zerstreut über die Schlammwüste, in selbstgebauten Hütten bei den Salzfeldern. Die nächsten Nachbarn sind mindestens ein oder zwei Kilometer entfernt.

Die Salzfelder werden jedes Jahr von 60 Kooperativen vermietet, die von privaten Händlern kontrolliert werden. Diese stellen sicher, daß der Salzpreis immer gleich niedrig bleibt. Die Agaria gehören einer armen und rechtlosen Hindu-Kaste an und sind gewerkschaftlich nicht organisiert. Daher sind sie völlig abhängig von Darlehen, die sie von den Händlern im voraus erhalten.

Der sechs Jahre alte Ramesh weiß, wie er Besucher mit einem charmanten Lächeln gewinnen kann. Schnell fertigt er ein Ölbild an, läßt es trocknen und überreicht es dann dem Besucher: »Kommen Sie doch zu meinem Haus«, bittet der verdreckte Junge. Ramesh und seine Geschwister besuchen Asha, eine weitere alternative Schule in Rann, die von Ganatar eingerichtet wurde. Die Kinder brauchen Stunden, um morgens mit dem Fahrrad in die Schule zu gelangen. Andere Fortbewegungsmittel gibt es nicht.

Ramesh ist im zweiten Schuljahr. Er kann schon mühelos seinen Namen schreiben, Lieder singen und Gedichte aufsagen. Ein Schultag ist lang, er dauert von 10 Uhr morgens bis 16 Uhr nachmittags. Trotzdem würde nie ein Kind absichtlich dem Unterricht fernbleiben. Die älteren erledigen vor der Schule schon die Hausarbeit, wie den Hausputz und das Kochen. Die Erwachsenen müssen schon vor Tagesanbruch in den Salzfeldern sein. Wegen der Hitze beginnen sie bei Dunkelheit mit ihrer Arbeit. Die Salzkristalle glitzern im Sonnenlicht wie Diamanten und blenden die Augen der Arbeiter aufs unerträglichste.

Rameshs Mutter steht am Rand einer tief ausgehobenen Grube, ihr Sari ist bis zu den Knien hochgezogen. Vom oberen Rand sickert Schlamm und Salzwasser. Die Kinder versuchen mit ihrem Spielzeug, einer Puppe und zwei weißen Schweinchen, den rutschigen Hang heraufzuklettern, werden aber von ihrer Mutter und einem helfenden Nachbarn zurückgerufen. Rameshs Vater mußte in die nächstgelegene Stadt, 20 Kilometer entfernt, um benötigte Vorräte zu kaufen. Kein Agaria kann sich einen Unfall leisten, denn weit und breit gibt es keine medizinische Hilfe. In Notfällen, wie zum Beispiel einer schwierigen Geburt, werden die Patienten auf dem Fahrrad ins Krankenhaus geschafft.

Prashantbhai, Leiter des Ganatar-Büros im Dorf Patdi im Surendranagar-Distrikt, erklärt, daß der Bürojeep sehr oft auch als Ambulanz dient. »Es passieren viele Unfälle, Kinder werden schwer krank, Frauen sterben bei der Geburt, und auch die Kindersterblichkeit ist sehr hoch. Aber die Regierung schert sich nicht darum, Maßnahmen für eine Gesundheitsvorsorge zu ergreifen«, so Prashantbhai. Tatsächlich ist das einzige Zeichen für eine Intervention der Regierung ein merkwürdiger Ein-Raum-Zementbau, der vor einigen Jahren als Aufenthaltsraum für die Agaria gebaut wurde.

Ganatar begann vor sechs Jahren auf Wunsch der Gemeinschaft damit, die Schulen für die Agaria-Kinder zu organisieren. Prashantbhai, der das von terre des hommes unterstützte Projekt für gefährdete Kinder leitet, ist Monate zuvor mit dem Fahrrad durch Rann gefahren, um herauszufinden, was die Agaria-Kinder am dringendsten brauchen, um dem Teufelskreis von Armut, Migration, Analphabetismus und Ausbeutung zu entkommen. Überall wurde er herzlich aufgenommen, aber richtig ernst nahmen die Menschen ihn erst, als er ein kleines Zelt für die Kinder aufstellte, in dem sie spielen konnten. Kurze Zeit später brachte er ihnen schon Lesen und Schreiben bei.

Neben den elf Schulen für Agaria-Kinder baut Ganatar mit deutscher Hilfe Mädchenschulen in fünf Erdbeben-Dörfern. Zusätzlich gibt es noch Dorfzentren in der Nähe von Prashantbhais Büro, in die alle Kinder gehen können. Oft sind es Mädchen, die sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern müssen. Die Heranwachsenden sollen dazu ermutigt werden, das Zentrum zu besuchen und mit den lokalen Lehrern der Gemeinde zu lernen.

»Unsere Lehrer kommen nie von außerhalb. Nur ein Agaria ist in der Lage, unter den schwierigen Bedingungen in Rann zu arbeiten«, erklärt Sukhdevbhai Patel, Begründer von Ganatar. Schon zu Studienzeiten schloß er sich verschiedenen sozialen Bewegungen an. Er sei sehr stark von den Gandhianern und Sozialisten in Gujarat geprägt worden, so Patel. Das Konzept von Ganatar versucht, trotz der widrigen Lebensumstände den Kindern Schulbildung zu ermöglichen, um ihnen Selbstvertrauen, Eigenständigkeit und Wissen zu vermitteln.

Er sei stolz auf das, was die Organisation in den letzten zehn Jahren für die ausgegrenzten Menschen, besonders aber für die Kinder, getan habe. Aus den Dörfern um das Vogelreservat Nalsarovar, nur 40 Kilometer von der größten Metropole Gujarats, Ahmedabad, entfernt, wanderten viele Familie nach Saisonschluß aus. Feldarbeiten sind zu dieser Zeit nicht mehr möglich, deshalb suchen sich die Betroffenen für sechs Monate eine Arbeit in Ziegeleien. Ganatar unterhält in dieser Zeit Wohnheime für die Kinder, damit sie in ihren Heimatdörfern weiterhin zur Schule gehen können.

Die einfache Landwirtschaft ist die einzige Einkommensquelle in den ausgedörrten Gebieten südlich von Rann. Während Gujarat zu den drei industrialisierten Bundesstaaten Indiens zählt, gibt es in den Randgebieten des nördlichen Surendranagar- und Kutch-Distriktes fast keine industrielle Entwicklung und nur mangelhafte infrastrukturelle Einrichtungen. Drei aufeinander folgende Jahre schlimmster Dürre führten zu einem Exodus der Dorfbewohner.

Vor zwei Jahren verlegte Ganatar den Sitz von drei Schulen, da die Familien in die 220 Kilometer entfernten Salzfelder im Kutch-Distrikt auswanderten. »Wir wollten die Kinder nicht im Stich lassen, die an dem Schulprozeß teilnahmen«, erklärt Sukhdevbhai. Das salzhaltige Grundwasser in Rann ist zwar dreimal so ergiebig wie das Meerwasser. Aber die Dürre macht den Agaria aus den Dörfern rund um Patdi schwer zu schaffen. Migration und Überproduktion brachten die Salzpreise zum Fallen, so daß die Familien jetzt gezwungen sind, sich noch weiter entfernt Arbeit zu suchen.

Jayantibhai unterrichtet in der Ganatar-Schule in Joganinar. Als wir ankommen, sind seine Schüler schon alle ausgeflogen. Die 30 Agaria-Familien, einschließlich seiner eigenen, sind alle Migranten aus dem Gebiet von Kharagodha. Seine Eltern und seine jüngeren Geschwister arbeiten in den Salzfeldern, während seine Frau in der Nähe der behelfsmäßigen Hütte bleibt, für den Fall, daß das einen Monat alte Baby sie braucht. Nur der Vater kann bei der Arbeit Gummistiefel tragen. Die Salzgewinnung ist sehr aufwendig und muß rund um die Uhr überwacht werden.

In der stillen Abgeschiedenheit des Rann, wo noch nicht mal ein Vogel zwitschert, müssen die Kinder in Rameshs Alter auf Dieselmotoren aufpassen, die das salzhaltige Wasser vom Erdboden pumpen. Ihr monotones Brummen ist das einzige Geräusch, was zu hören ist. »Die Pumpe ist das Wichtigste. Du kannst eine Menge Geld durch falsche Sickergruben und einen frühen Verschleiß der Pumpe verlieren. Wenn die Pumpe aufgrund eines technischen Fehlers kaputt geht, dann muß sie zur Reparatur in die Stadt zurückgebracht werden«, erklärt Savashibhai. In Rann gibt es weder Mechaniker, noch Ersatzteillager oder Wartungsmöglichkeiten.

Aktuellen Erhebungen zufolge wandern rund 100000 Arbeiter mit ihren Kindern in die Salzfelder aus. Das sind aber nur grobe Schätzungen. Es gab zum Beispiel niemanden, der sagen konnte, wie viele hundert Agaria-Familien durch einen Wirbelsturm gestorben sind, der 1998 die Küste von Kandla verwüstete. Daß ihre Zahl groß gewesen sein muß, zeigte der Mangel an Arbeitskräften im darauffolgenden Jahr. Eine Untersuchung von 102 Dörfern in den südlichen Gebieten des Kutch-Distrikts, die unmittelbar nach dem Wirbelsturm von einer NGO durchgeführt wurde, deckte auf, daß 91,8 Prozent der arbeitenden Bevölkerung der Salzarbeit nachgehen.

Aus: junge Welt (Wochenendbeilage), 1. März 2003


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