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Arundhati Roy soll vor Gericht

Indische Hindunationalisten empört über Forderung nach "Freiheit für Kaschmir"

Von Thomas Berger *

Die wohl bekannteste indische Schriftstellerin Arundhati Roy ist zum Ziel der Empörung der oppositionellen hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) geworden.

Bei einer Konferenz über das Kaschmirproblem, die in der vergangenen Woche in Delhi stattfand, forderte die 1997 mit ihrem Roman »Der Gott der kleinen Dinge« weltbekannt gewordene Autorin als eine von mehreren Rednern »Azaadi« (Freiheit) für Kaschmir von Indien und für Indien von Kaschmir. Das Gebiet sei »niemals integraler Bestandteil Indiens« gewesen. Es müsse eine Autonomielösung für den nördlichsten Bundesstaat geben, der nach der Teilung Britisch-Indiens der indischen Föderation einverleibt wurde. Auf Bitten des hinduistischen Maharadschas, der damals über eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung herrschte, hatte das indische Militär 1948 eine drohende pakistanische Invasion abgewehrt. Eine Volksbefragung zum künftigen Status des Gebietes, wie sie später die UNO angeregt hatte, lehnen die meisten Politiker in Delhi ab, aber auch in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad ist man skeptisch.

Während BJP-Politiker die Schriftstellerin für ihren »Angriff auf die territoriale Integrität Indiens« vor Gericht stellen wollen, mußten Aktivisten der Parteibasis am Wochenende davon abgehalten werden, in ihr Haus einzudringen. Daraufhin verwüsteten sie dessen Außenanlagen. In Reaktion darauf kritisierte Arundhati Roy einen Teil der Medien, deren Vertreter von solchen Aktionen schon im Vorfeld Kenntnis hätten und gemeinsam mit dem Mob am jeweiligen Tatort einträfen.

Das indische Innenministerium vermied es zunächst, sich mit Erklärungen zu sehr festzulegen. Im Falle einer Verurteilung drohen Arundhati Roy bis zu fünf Jahre Haft. Jeder in Delhis politischen Spitzenkreisen weiß allerdings, daß schon eine formelle Anklageerhebung international für Negativschlagzeilen sorgen und Indiens Image erheblich schädigen würde.

Gleichwohl sind die Attacken gegen die Autorin und Menschenrechtsaktivistin kein Einzelfall. Die Shiv Sena in Mumbai (Bombay), die um einiges radikaler ist als die BJP, hat die örtliche Universität gezwungen, ein 20 Jahre altes Buch aus dem Lehrplan für englische Literatur zu entfernen. Das Werk »Solch eine lange Reise« des in Kanada lebenden indischen Schriftstellers Rohinton Mistry darf nun nicht länger im zweiten Studienjahr behandelt werden. Der Vizekanzler der Hochschule, Rajan Welukar, verteidigte die Entscheidung, der Forderung der nach ihrer Erkennungsfarbe benannten Safran-Hooligans nachzukommen. Bei aller Verteidigung der Meinungsfreiheit dürften die Gefühle einzelner gesellschaftlicher Gruppen nicht verletzt werden. Mistry, der in seinen auch in Deutschland verlegten Romanen ein umfassendes Bild des Lebens einfacher Leute in der Metropole Mumbai während unterschiedlicher Zeiten zeichnet, verwendet bei einigen Beschreibungen Ausdrücke, die von seinen Kritikern als »obszön« gebrandmarkt werden.

* Aus: junge Welt, 3. November 2010


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