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Im atomaren Schatten / Under the nuclear shadow

Arundhati Roy beobachtet den Kaschmir-Konflikt aus ihrem Haus in Neu-Delhi / Arundhati Roy looks at the conflict over Kashmir from her home in New Delhi

Der folgende Text der weltberühmten engagierten Schriftstellerin Arundhati Roy ("Der Herr der kleinen Dinge") ist zuerst im Radio 4 in Großbritannien gesendet worden (Sonntag, 2. Juni 2002). Wir dokumentieren den Text in einer deutschen Übersetzung und im englischen Original.


Im atomaren Schatten

Als in dieser Woche Diplomatenfamilien und Touristen schnell verschwanden, trafen Scharen von Journalisten aus Europa und Amerika ein. Die meisten residieren im Imperial Hotel in Neu-Delhi. Viele von ihnen rufen mich an. "Warum sind Sie noch hier?" fragen sie, "Warum haben Sie nicht die Stadt verlassen?" "Ist nicht ein Atomkrieg eine reale Möglichkeit?" Er ist es - aber wohin soll ich gehen? Falls ich fortginge und alles und jeder, jeder Freund, jeder Baum, jedes Haus, jeder Hund, Eichhörnchen und Vogel, die ich gekannt und geliebt habe, verbrannt sein würde - wie sollte ich weiterleben?

Wen soll ich lieben und wer sollte mich wiederlieben? Welche Gesellschaft würde mich willkommen heißen und mich der Rüpel sein lassen, der ich hier, zu Hause, bin?

Wir alle haben uns entschieden, zu bleiben. Wir haben uns zusammengekuschelt, wir erkennen, wie sehr wir einander lieben und denken, welch ein Pech es sein würde, jetzt zu sterben. Das Leben ist normal, nur weil das Makabre zur Normalität geworden ist. Während wir auf Regen warten, auf Fußball, auf Gerechtigkeit, reden im Fernsehen die alten Generäle und die alerten Anchorboys über den Erstschlag und über Zweitschlagkapazitäten, als ob sie über ein Gesellschaftspiel in der Familie sprächen. Meine Freunde und ich unterhalten uns über Prophecy, den Film über die Bombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki, die Leichen, die den Fluss verstopften, die Lebenden ohne Haut und Haare, wir erinnern uns besonders an den Mann, der einfach mit den Stufen des Hauses verschmolzen wurde und wir stellen uns selbst vor als Brandflecke auf der Treppe.

Mein Mann schreibt gerade ein Buch über Bäume. Es gibt darin ein Kapitel über die Befruchtung von Feigen, wie jede Feige von ihrer spezialisierten Feigenwespe befruchtet wird. Es gibt fast 1.000 verschiedene Arten von Feigenwespen. Alle diese Feigenwespen würden atomisiert sein - wie mein Mann und sein Buch.

Eine liebe Freundin, die in der Bewegung gegen den Staudamm im Narmanda-Tal aktiv ist, befindet sich in einem unbegrenzten Hungerstreik. Heute ist der zwölfte Tag ihres Fastens. Sie und die anderen, die mit ihr im Hungerstreik sind, werden zusehends schwächer. Sie protestieren, weil die Regierung Schulen mit Bulldozern planiert, Wälder niedermacht, Wasserpumpen herausreißt, Menschen aus ihren Dörfern treibt. Welches Handeln aus Glauben und Hoffnung. Aber was ist ein vernichteter Wert für eine Regierung, die sich mit der Vorstellung einer verwüsteten Welt wohlfühlt?

Terroristen können einen atomaren Krieg auslösen. Gewaltllosigkeit wird verachtet. Vertreibung, Enteignung, Hunger, Armut, Krankheit - dies alles sind jetzt nur noch spaßige Details. Inzwischen kommen die Boten der Koalition gegen den Terror und predigen Zurückhaltung. Tony Blair kommt, um Frieden zu predigen - und um nebenher Waffen an beide Seiten zu verkaufen, an Indien und Pakistan. Die letzte Frage, die mir jeder journalistische Besucher stellt, lautet: "Schreiben Sie ein neues Buch?"

Diese Frage amüsiert mich. Ein neues Buch? Gerade jetzt, wenn es scheint, als ob alle Musik, Kunst, Architektur, Literatur, die ganze menschliche Zivilisation den Un-Menschen, die die Welt regieren, nichts bedeuten. Welche Art Buch sollte ich schreiben? Denn heute, gerade heute, für eine ganze Zeit, ist Sinnentleerung mein größter Feind. Das ist es, was Atombomben anrichten, ob sie eingesetzt werden oder nicht. Sie schänden alles, was menschlich ist, sie verändern den Sinn des Lebens.

Warum ertragen wir sie? Warum ertragen wir die Menschen, die Atomwaffen benutzen, um die ganze menschliche Rasse zu erpressen?

Zuerst gesendet über das Programm Radio 4's Today


Under the nuclear shadow

This week as diplomats' families and tourists quickly disappeared, journalists from Europe and America arrived in droves. Most of them stay at the Imperial Hotel in Delhi. Many of them call me. Why are you still here, they ask, why haven't you left the city? Isn't nuclear war a real possibility? It is, but where shall I go? If I go away and everything and every one, every friend, every tree, every home, every dog, squirrel and bird that I have known and loved is incinerated, how shall I live on? Who shall I love, and who will love me back? Which society will welcome me and allow me to be the hooligan I am, here, at home?

We've decided we're all staying. We've huddled together, we realise how much we love each other and we think what a shame it would be to die now. Life's normal, only because the macabre has become normal. While we wait for rain, for football, for justice, on TV the old generals and the eager boy anchors talk of first strike and second strike capability, as though they're discussing a family board game. My friends and I discuss Prophecy, the film of the bombing of Hiroshima and Nagasaki, the dead bodies choking the river, the living stripped of their skin and hair, we remember especially the man who just melted into the steps of the building and we imagine ourselves like that, as stains on staircases.

My husband's writing a book about trees. He has a section on how figs are pollinated, each fig by its own specialised fig wasp. There are nearly 1,000 different species of fig wasps. All the fig wasps will be nuked, and my husband and his book.

A dear friend, who is an activist in the anti-dam movement in the Narmanda Valley, is on indefinite hunger strike. Today is the twelfth day of her fast. She and the others fasting with her are weakening quickly. They are protesting because the government is bulldozing schools, felling forests, uprooting handpumps, forcing people from their villages. What an act of faith and hope. But to a government comfortable with the notion of a wasted world, what's a wasted value?

Terrorists have the power to trigger a nuclear war. Non-violence is treated with contempt. Displacement, dispossession, starvation, poverty, disease, these are all just funny comic strip items now. Meanwhile, emissaries of the coalition against terror come and go preaching restraint. Tony Blair arrives to preach peace - and on the side, to sell weapons to both India and Pakistan. The last question every visiting journalist always asks me: 'Are you writing another book?'

That question mocks me. Another book? Right now when it looks as though all the music, the art, the architecture, the literature, the whole of human civilisation means nothing to the monsters who run the world. What kind of book should I write? For now, just for now, for just a while pointlessness is my biggest enemy. That's what nuclear bombs do, whether they're used or not.

They violate everything that is humane, they alter the meaning of life. Why do we tolerate them? Why do we tolerate the men who use nuclear weapons to blackmail the entire human race?

This was first broadcast on Radio 4's Today programme.


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