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Roter Stern über Indien

Der Kampf der Naxaliten gegen Hunger, Ausbeutung und Vertreibung

Von Thomas Eipeldauer *

Wie man Indien beschreibt, hängt von der Perspektive ab, die man einnimmt. Vom Standpunkt des nationalen und internationalen Großkapitals ist es ein Hort der Hoffnung in unsicheren Zeiten: hohe Wachstumsraten, ambitionierte Liberalisierungsbestrebungen, Bodenschätze in Hülle und Fülle und ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften.

Aus dem Blickwinkel des bei weitem größten Teils der Bevölkerung des Landes sieht diese »Erfolgsstory« freilich anders aus. Während sich die neureiche Bourgeoisie mit Konsumgütern aus aller Welt eindeckt, ist das Leben der Mehrheit geprägt von Hunger, Ausbeutung, Unterdrückung und Vertreibung. Die verstörende Kluft zwischen dem potentiellen Reichtum des Landes und der schockierenden Armut der hier lebenden Menschen ist durch die Marktöffnung und Modernisierung der letzten Jahrzehnte weiter gewachsen.

Besonders betroffen sind die Adivasi, die indigenen Völker des Subkontinents, und die Dalits, die »Unberührbaren« – zusammen etwa 257 Millionen Menschen, die am untersten Rand der Kastenrangordnung ein Dasein fristen, das sich in für westliche Gesellschaften gängigen Kategorien gar nicht zureichend beschreiben läßt. Es wundert daher kaum, daß hier auch die Massenbasis für militanten kommunistischen Widerstand entstanden ist. Benannt nach einem Bauernaufstand in Naxalbari 1967 hat diese um die Kommunistische Partei Indiens (Maoisten) gruppierte Bewegung nach unzähligen Spaltungen, Teilsiegen und Niederlagen mittlerweile nennenswerten Einfluß in weiten Teilen des ländlichen Indien errungen. Die Naxaliten verfügen über eine schlagfähige Guerillaarmee, zivile Massenorganisationen und bauen in einigen Gebieten bereits eine eigene Verwaltungsstruktur auf. Der indische Premier Manmohan Singh nannte sie schon vor Jahren die »größte Bedrohung der inneren Sicherheit« des Landes.

Bürgerkrieg

Der Staat reagiert auf den Widerstand, auch da wo er gewaltfrei ist, mit brutaler Repression. Reguläre Polizeieinheiten, Paramilitärs und marodierende Banden im Sold der Grundbesitzer arbeiten Hand in Hand, wenn es um die Bekämpfung der Naxaliten geht. Sie brennen Dörfer nieder, töten, foltern und vergewaltigen. Die Peoples Liberation Guerilla Army (PLGA) der Naxaliten wehrt sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln: mit erbeuteten Gewehren, manchmal auch nur Pfeil und Bogen.

Wenn man sich das Ausmaß dieses Konfliktes vergegenwärtigt, ist es erstaunlich, wie unterrepräsentiert er lange Zeit in der Wahrnehmung der bundesdeutschen Linken war. Im März 2011 ist nun ein erster, umfassender Überblick zum Thema im Kölner Neuen ISP-Verlag erschienen. Lutz Getzschmann beschreibt in »Indien und die Naxaliten. Agrarrevolution und kapitalistische Modernisierung« nicht nur die ökonomische Entwicklung des Landes und die entsprechenden politischen Kräfteverhältnisse. Er skizziert auch die Herausforderungen, die sich für die indische Linke durch Urbanisierung, Weltmarktöffnung und Proletarisierung ergeben. Nachvollziehbar schildert er die Strategien der verschiedenen, teils rivalisierenden kommunistischen Gruppierungen im Land und die Geschichte der naxalitischen Bewegung. Bergbau und Staudammprojekte, der dazugehörige Landraub, die Sonderwirtschaftszonen mit ihrer neuen, gewerkschaftlich noch kaum erfaßten Arbeiterschaft, die blutige Durchkapitalisierung der Landwirtschaft – das Buch ist eine Gesamtdarstellung, der auch in der Breite des Stoffs die Tiefe der Analyse nicht verlorengeht.

Zu Gast ...

Einen anderen Zugang zu den Kämpfen in Indien vermittelt der kürzlich im Frankfurter Zambonverlag erschienene Bericht Jan Myrdals »Roter Stern über Indien. Wenn die Verdammten dieser Erde sich erheben (…)«. (Siehe jW vom 25. Jui 2011) Der schwedische Schriftsteller hatte bereits vor dreißig Jahren in seinem Buch »Indien bricht auf« nach langen Aufenthalten bei den Maoisten seine Erfahrungen mit der Guerilla der westlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 2010 besuchte er erneut das Naxalitengebiet und schrieb seine Eindrücke und Reflexionen nieder. Entstanden ist ein sehr persönlicher, von gelebter Solidarität mit der Guerilla geprägter Text, der schon wegen der langen Zitate aus Gesprächen mit hochrangigen Vertretern der Partei und aus Originaldokumenten der KPI (Maoisten) lesenswert ist. Zumal auch viel an theoretisch Interessantem und Verallgemeinerbarem in den Strategiepapieren der indischen Maoisten enthalten ist: zur Bündnispolitik, über das Verhältnis von klandestiner, Politik zur Arbeit in legalen, offenen Massenorganisationen oder über die Frage der Vereinheitlichung von Teilbereichskämpfen.

... bei der Guerilla

Ähnlich wie Jan Myrdal war auch die Schriftstellerin Arundhati Roy bei den Naxaliten zu Gast. Ihre demnächst in deutscher Übersetzung ebenfalls im Zambonverlag erscheinende Reportage »Walking with the comrades« ist eine Pflichtlektüre für alle, die einen Einblick in das Innenleben der Guerilla gewinnen wollen. Roy ist mit den Genossen durch die Wälder Dandakaranyas marschiert, hat Gespräche geführt, mit ihnen getanzt und ihre Lieder gesungen. In jeder Zeile des Textes spürt man den Stolz jener Kämpferinnen und Kämpfer, die ihr Leben riskieren für den Traum einer anderen Gesellschaft: Genossin Laxmi, die der PLGA beigetreten ist, nachdem die staatlich subventionierten Terroristen der Salwa-Judum-Miliz ihr Dorf niedergebrannt haben. Oder Genossin Rinki, deren Freundinnen von Paramilitärs vergewaltigt und ermordet wurden. Und Chamri, deren Sohn von Polizisten erschossen und wie ein Tier mit Füßen und Händen an einer Stange festgebunden abtransportiert worden ist. Laxmi, Rinki und Chamri haben nicht resigniert. Sie und viele tausend andere kämpfen mit der Waffe in der Hand für ein Leben in Würde.

  • Lutz Getzschmann: Naxaliten – Agrarrevolution und kapitalistische Modernisierung. Neuer ISP-Verlag, Köln 2011, 415 Seiten, 32 Euro
  • Jan Myrdal: Roter Stern über Indien. Wenn die Verdammten dieser Erde sich erheben – Impressionen, Reflektionen und vorläufige Folgerungen. Zambon Verlag, Frankfurt am Main 2011. 160 Seiten, 12 Euro
  • Arundhati Roy: Walking with the Comrades, erscheint demnächst in deutscher Übersetzung im Zambon Verlag

* Aus: junge Welt, 29. August 2011


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