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"Indien ist das Eldorado für Pharmatests"

Allein 2010 starben daran 668 Menschen. Beteiligt ist der deutsche Bayer-Konzern. Ein Gespräch mit Jan Pehrke *


Jan Pehrke ist Vorstandsmitglied beim industriekritischen Bündnis Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBGnetwork.de).


Die Coordination gegen Bayer-Gefahren hat in einem offenen Brief an den Chef des deutschen Chemieriesen, Marijn Dekkers, Aufklärung über Todesfälle bei Pharmatests in Indien gefordert. Was ist der Hintergrund?

Das indische Gesundheitsministerium ist mit Zahlen herausgerückt, die belegen, daß es in den vergangenen Jahren zu einer Vielzahl an Todesfällen im Zusammenhang mit der Erprobung von Medikamenten gekommen ist. Allein 2010 verstarben demnach 668 Menschen. Seit 2007 existiert ein Register, das von da an 1600 Todesfälle auflistet. Auffällig ist dabei vor allem, daß die Fallzahlen von Jahr zu Jahr massiv gestiegen sind.

Gibt es auch gesonderte Zahlen zu Bayer?

Ja, aber die sind mit Vorsicht zu genießen. Demnach sind bei Bayer-Studien innerhalb von vier Jahren 138 Versuchspersonen gestorben. Offiziell ist der Tod jedoch nur bei 22 von ihnen auf Nebenwirkungen zurückzuführen, beim großen Rest wären Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauf- oder Krebsleiden ursächlich für das Sterben der Probanden. Das sind allerdings die Angaben von Bayer, und wirklich unabhängige Kontrollen gibt es nicht. Man muß deshalb leider von hohen Dunkelziffern ausgehen.

Wie verbreitet ist die Praxis, solche Tests ins Ausland zu verlegen?

Das Ausmaß nimmt seit einigen Jahren deutlich zu. Die Pharmaunternehmen haben mittlerweile große Schwierigkeiten, in den westlichen Industrieländern genügend Probanden aufzutreiben. Der Trend geht vor allem dahin, Ersatz in den ärmsten Ländern der dritten Welt zu finden. Indien ist dabei momentan so etwas wie das Eldorado für Pharmatests. Allein im Vorjahr wurden dort 2000 dieser Studien durchgeführt. Dort gibt es zahlreiche Menschen, die diese Tests bereitwillig und oft ahnungslos mitmachen. Dort werden die Studien schneller genehmigt, die Tests rascher abgewickelt, und es fehlt an einer wirksamen Aufsicht. Vieles läßt sich außerdem leichter vertuschen, zumal die Pharmakonzerne ihre Tests nicht selbst durchführen. Für Bayer machen das indische Partnerunternehmen.

Und welche Rolle spielt Indiens Regierung?

Deren wirtschaftpolitisches Ziel ist es, westliche Pharmakonzerne zum Engagement zu ermuntern. Dazu wurde 2005 eigens die Patentgesetzgebung geändert, seitdem lassen sich auf dem Subkontinent gewaltige Profite machen. Die Veröffentlichung der Todeszahlen hat aber für viel Empörung in der Bevölkerung gesorgt mit der Folge, daß es jetzt strengere Reglementierungen und Kontrollen geben soll. Tatsächlich ist die Zahl der Tests auch schon wieder leicht rückläufig. Die Karawane zieht weiter, vor allem China verspricht noch bessere Standortbedingungen. Andere Staaten mit vielen Armen stehen auch hoch im Kurs: Kolumbien, Pakistan, die Philippinen und Moldawien oder auch Rußland.

Erleben wir hier die Jagd nach billigen Versuchskaninchen?

Das kann man so sehen. Hier gehen Profite über Menschenleben. In diesen Ländern können viele Menschen nicht lesen und schreiben. Die erforderlichen Einverständniserklärungen unterschreiben Betroffene oft gar nicht selbst, sondern Dritte. Und die wenigsten wissen, auf welche Gefahren sie sich einlassen. Sie vertrauen den beteiligten Ärzten blind und denken, diese wollten sie mit dem Medikament heilen, statt sie als Testperson zu mißbrauchen.

Was unternimmt Bayer im Falle der offiziellen Todesfälle durch Nebenwirkungen?

Die Hinterbliebenen erhalten eine Entschädigung. Bei den Opfern von Xarelto, einem Thrombose-Medikament, von dem sich der Konzern auch eine Zulassung als Mittel zur Schlaganfallprophylaxe erhofft, waren es im Durchschnitt 5250 Dollar. Im Westen drohen in solchen Fällen Millionenklagen.

Sie konfrontieren die Bayer-Führung nicht zum ersten Mal mit den Vorwürfen. Wie waren bislang die Reaktionen?

Wir haben das Thema auf der vorletzten Aktionärsversammlung angesprochen. Der damalige Bayer-Chef Werner Wenning verweigerte aber jede genauere Auskunft und wiegelte ab, alles liefe nach Recht und Gesetz, und keine Testperson sei zu Schaden gekommen. Das ist ja nun eindeutig widerlegt. Wir wollen aber mehr wissen, vor allem auch, was vor 2007 geschehen ist.

Interview: Ralf Wurzbacher

* Aus: junge Welt, 27. Oktober 2011


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