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"Slumdog Millionaire" ist nur ein Mosaikstein

Millionenfache Armut gehört zum indischen Alltag und ist die Schattenseite der liberalen Reformen im Wirtschaftswunderland

Von Hilmar König, Delhi *

Acht Oscars erhielt »Slumdog Millionaire«, der britische Spielfilm mit indischem Inhalt, in Los Angeles. Der Streifen erzählt die fiktive Geschichte eines Jungen aus dem Slum Dharavi in Mumbai vom Tea Boy zum Millionär. Die indische Öffentlichkeit reagierte am Montag euphorisch auf die Auszeichnung für den Film, zumal unter den Preisträgern zwei Inder sind. Dennoch gehen die Meinungen zum Film weit auseinander.

Besonders kritisch äußerten sich die Bewohner Dharavis. Sie empfinden es als beleidigend, mit »Slumdogs« (etwa: Slumköter) verglichen zu werden. Auf dem 1,75 Quadratkilometer großen Gebiet des Elendsviertels in Mumbai (Bombay) leben rund eine Million Menschen, von denen die meisten durch ehrliche Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie wollen ihre Lage nicht schönreden, doch etliche der Filmszenen seien zu drastisch, schlicht übertrieben. »Die Realität hier ist viel besser als im Film«, äußerte eine junge Frau. Die meisten haben den Film allerdings gar nicht gesehen, denn eine Kinokarte würde fast einen ganzen Tagesverdienst kosten.

Die Autorin Arundhati Roy glaubt, die Armut werde zu unpolitisch dargestellt. Der Film wecke die »falsche Hoffnung, dass die Armen eines Tages Millionäre werden könnten«. Sitaram Yechuri, Mitglied des Politbüros der KPI (Marxistisch), findet zwar, der Film glorifiziere die Armut durchaus nicht. Aber Millionen seiner Landsleute brauchten ein solches Spiegelbild nicht, weil sie die Armut täglich am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Tatsächlich gibt »Slumdog Millionaire« nur einen Bruchteil indischer Wirklichkeit wider. In der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Indien mit ihren kühnen Straßenbrücken, über die Luxuskarossen flitzen, mit den modernen Einkaufstempeln, den unablässig von den Bollywood-Studios produzierten Traumwelten oder der superschnellen U-Bahn in Delhi ist der Gegensatz zwischen Armut und Reichtum viel größer, als sich das in einem Slum widerspiegelt. Obwohl der Alltag dort ohne Zweifel schlimm genug ist. Ein gerade von dem Sozialwissenschaftler Amitabh Kundu vorgelegter Bericht konstatiert, dass im Jahre 2001 »23,7 Prozent der städtischen Bevölkerung in Slums mitten in Schmutz, Kriminalität, Krankheiten und angespannten Verhältnissen lebten.«

Aufschwung für 23 Prozent

Die Früchte des 1991 begonnenen Wirtschaftsaufschwungs, der Liberalisierung und der marktwirtschaftlichen Reformen ernteten - wenn man die untere Mittelklasse mitrechnet - 23 Prozent der weit über eine Milliarde Inder. Das stellte der Ökonom Arjun Sengupta kürzlich in einem Vortrag zum Thema »Das andere Indien« fest. Das Magazin »Forbes« hatte im Frühjahr 2008 unter den zehn Reichsten in der Welt vier Inder mit einem Gesamtvermögen von 340,9 Milliarden Dollar aufgelistet.

Von den restlichen 77 Prozent der Bevölkerung können dagegen viele am Tag höchstens 20 Rupien (etwa 30 Cent) ausgeben. Zu dieser Gruppe gehören 84 Prozent der indischen Muslime, 82 Prozent der Dalits (kastenlose Unberührbare) und 79 Prozent der »anderen rückständigen Klassen«. Sie sind überwiegend Analphabeten, verfügen über keine Berufsausbildung und sind nicht in einen Arbeitsplatz vermittelbar. Die Gesellschaft betrachtet und behandelt sie als »Ausgestoßene«. »Für diese über 800 Millionen Inder reichen die ökonomischen Reformen nicht«, sagte Professor Sengupta. Für sie müsse eine völlig neue Politik her, die bei Bildung beginnt und Beschäftigungsprogramme, Kredite, Sozial- und Krankenversicherung, Rente und Mutterschutz einschließt.

Einen Anfang hat die Regierung der Vereinten Progressiven Allianz unter Premier Manmohan Singh mit dem Projekt gemacht, das je einem Familienmitglied in den ländlichen Gebieten 100 Tage im Jahr eine bezahlte Beschäftigung auf lokaler Ebene garantiert. Es ist aber eben nur ein erster Schritt.

Die Herausforderungen sind enorm, wie die statistischen Angaben belegen: Im UN-Index der menschlichen Entwicklung rangiert Indien an 127. Stelle. Beim Hunger-Index steht es schlechter als das subsaharische Afrika da. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt knapp 65 Jahre. Die Säuglingssterblichkeitsrate von 55 (bezogen auf 1000) ist beschämend für ein Land, das sich auf dem Weg zur Industrienation wähnt.

40 Prozent der Inder können nicht lesen und schreiben. Die Angaben über Kinderarbeit in der Altersgruppe 5 bis 14 Jahre schwanken zwischen 16,4 und 44 Millionen. Der Sozialaktivist Palagummi Sainath fand heraus, dass in den vergangenen fünf Jahren 150 000 Bauern in auswegloser Lage, hoch verschuldet, Selbstmord begingen. Auf einem Seminar unter dem Motto »Vision eines neuen Indiens« nannte Prakash Karat, der Generalsekretär der KPI (M), das »Ausmaß von Unterernährung und Armut unbeschreiblich und eine Obszönität für Indien«. Der neoliberale Kurs habe dazu geführt, dass die Armen noch tiefer in die Gosse gestoßen wurden.

Obwohl die Regierenden die Auswirkungen der Wirtschaftskrise noch kleinzureden versuchen, ist diese deutlich spürbar. Beträchtliches »Negativwachstum« verzeichnen bereits die Fertigungsindustrie, das Baugewerbe, die Agrarwirtschaft, die Bekleidungs-, Textil-, Leder- und Schmuckindustrie, der Immobilienhandel, die Informationstechnologie, Versicherungen und der Export. Das Frachtaufkommen bei der Bahn sank. Die Inland-Fluglinien meldeten im Januar fast 15 Prozent weniger Passagiere. Der Automobilsektor, darunter Tata und das japanisch-indische Unternehmen Suzuki/Maruti, klagt über Absatzeinbußen, die bis zu 25 Prozent betragen. Trotzdem eröffnet Mercedes am Dienstag im südindischen Pune eine neue Produktionsstätte. Aus den USA und Europa kehren wegen der Krise indische Software-Ingenieure zurück. Allein der Unionsstaat Kerala erwartet bis Juni 200 000 aus der Golfregion zurückkehrende Gastarbeiter.

»Aam admi« geht leer aus

Die Gewerkschaften haben inzwischen Alarm geschlagen: In vier Monaten seien bereits zwei Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. Die im Dezember und im Januar verabschiedeten »Stimuluspakete«, die den Abschwung bremsen sollen und vor allem aus fiskalischen, monetären Maßnahmen und verstärkten staatlichen Investitionen bestehen, dienten laut CITU-Gewerkschaftsboss M.K. Pandhe lediglich den Kapitalisten, während der »Aam admi« - der gewöhnliche Mann - leer ausgehe. Damit formulierte er eine verbreitete Auffassung: Die reiche Elite werde verhätschelt, die Masse der Bedürftigen vernachlässigt. Ein Eindruck, den die regierenden Politiker wenige Monate vor den Parlamentswahlen mit aller Kraft zu verwischen bemüht sein werden. Das Fazit des Vortrags von Professor Sengupta über das »andere Indien« lautete: »Wir sitzen auf einem Vulkan.«

* Aus: Neues Deutschland, 24. Februar 2009


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