Indien-Pakistan: Es begann in Gujarat - wo wird es enden?
Ungehemmter Hindu-Nationalismus verschärft Atomkriegsgefahr
Während Indiens Premier Vajpayee und Pakistans Militärmachthaber Musharraf Anfang Juni 2002 beim Asien-Gipfel weiter diplomatisch mit dem Säbel rasseln und Putin sich redlich bemüht, den Konflikt zwischen den beiden - inoffiziellen - Atommächten zu entschärfen, gibt es an der Grenze durch Kaschmir keinen Hinweis darauf, dass ein Krieg weniger wahrscheinlich geworden ist. Britta Ohm beschreibt in dem folgenden Artikel, den wir gekürzt dokumentieren, dass die März-Pogrome im indischen Bundesstaat Gujarat offenbar nur das Vorspiel auf einen heraufziehenden Krieg des Hindu-Nationalismus gegen den pakistanisch-kaschmirischen Islamismus gewesen ist. Der Artikel wurde im "Freitag", 31. Mai 2002, veröffentlicht unter dem Titel: "Vajpayee gibt sich selbst die Sporen".
... Seit 50 Jahren streiten Indien und
Pakistan um Kaschmir. ... Seit acht Monaten überlagert
Amerikas Anti-Terror-Krieg den Konflikt.
Und fast ebenso lange setzt sich die
indische Regierung mit einem militanten
Hindu-Nationalismus unter Druck,
der auch nach äußerer Entladung drängt.
"Mein Besuch hier bedeutet etwas. Ob unser
Nachbar Pakistan es versteht
oder nicht, ob die Welt Notiz davon nimmt
oder nicht, die Geschichte wird
Zeuge sein, dass wir ein neues Kapitel des
Sieges schreiben ...."
Es ist symptomatisch, dass der indische
Premier Atal Bihari Vajpayee
schon seine Ankunft im umkämpften Kaschmir
mit derart
heroisch-aggressiver Rhetorik untermalt,
um gleichzeitig die "defensive
Position Indiens" zu loben, das von der
Welt - respektive den USA -
bewusst allein gelassen werde. "Die Welt
sieht, dass uns Unrecht zugefügt
wurde, aber sie bezieht nicht offen
Stellung. Also müssen wir uns selbst
verteidigen; wir sind bereit ..."
"Die Welt" sieht die Eskalation zwischen
den Atommächten Indien und
Pakistan als weiteren Schlagabtausch in
einem mittlerweile über 50 Jahre
währenden Konflikt, der im Zeichen des war
on terrorism eine neue
Dimension erreicht. Die medialen
Reflexionen - gelegentlich durchsetzt mit
Zitaten Vajpayees, die immer den gleichen
Inhalt haben, nämlich "das
Ende der indischen Geduld" - zeigen, wie
sehr wir uns an die griffige
Formel gewöhnt haben oder daran gewöhnt
werden, dass hinter allem Übel
der Welt heutzutage Terroristen stecken. ...
Dabei lehnt sich der Hindu-Politiker in
seiner robusten Rhetorik nicht nur
gern beim amerikanischen Präsidenten und
seiner Umgebung an - er
empfiehlt sich zugleich als Anwalt
"endgültiger Lösungen" und bedient eine
Philosophie seiner hindu-nationalistischen
Bharatiya Janata Party (BJP),
die auf eine tödliche Dynamik hinausläuft.
Der Held von Gujarat
Das vorangegangene Kapitel dieser Hybris
ist gerade - mit noch
unabsehbaren Folgen - im westlichen
Bundesstaat Gujarat geschrieben
worden. Eine Geschichte aus 70 Tagen, an
denen es immer wieder
Pogrome gegen die muslimische Minderheit
gab. Die Zahl der Opfer liegt
nach offiziellen Angaben bei 900,
inoffiziell ist von über 2.000 die Rede. Die
Fact Finding Reports unabhängiger Gruppen
sowie der Editors Guild India
sagen aus, dass die Exzesse nicht nur in
bislang ungekannter Weise von
der Regionalregierung gebilligt wurden,
sondern die Gewalt, besonders
gegen Frauen und Kinder, erstmals dem Ruf
folgte: "Finish with them once
and for all" (Macht sie fertig, ein für
allemal!) und von weiten Teilen der
Bevölkerung - von der Oberschicht über die
Mittelklassen bis zu den
Adivasis - mitgetragen wurde.
Im April scheiterte ein zynisches Manöver
von Narendra Modi (BJP), des
Chefs der Regionalregierung von Gujarat,
die Massaker politisch
auszuschlachten. Modi, der einer
"verständlichen Wut der Hindus" freien
Lauf ließ und vom mittelmäßigen
Administrator zum "Helden von Gujarat"
aufstieg, hatte versucht, die Anfang 2003
anstehenden Wahlen
vorzuziehen, wurde aber von Atal Bihari
Vajpayee gestoppt. Der Premier
musste dem Druck seiner Koalitionspartner
in Delhi Tribut zollen. Ein
taktischer Schachzug, wie sich kurz darauf
beim Nationalen Parteitag der
BJP zeigen sollte, als Vajpayee den bis
dato "moderaten",
koalitionsorientierten Kurs seiner Partei
für die jüngsten Niederlagen bei
Regional- und Kommunalwahlen
verantwortlich machte und den Kongress
beschwor, nun auf die kompromisslose
Hindutva-Linie einzuschwenken,
deren Credo lautet: "Wo immer Muslime
leben, sie wollen nicht in Frieden
mit anderen leben." In Rhetorik und
Programm entsprach das Narendra
Modis ungeschlachtem Versuch, die Ernte
sofort einzufahren. Die Parole
"Ende der Toleranz" wurde als Konsequenz
aus dem Genozid von Gujarat
propagiert. Die Ereignisse dort hatten in
den Augen der BJP-Führer
gezeigt, dass eindeutige Aktionen in einer
religiös polarisierten
Wählerschaft sehr viel mehrheitsfähiger
waren als der politische Dialog - ob
nun mit Koalitionspartnern, religiösen
Minderheiten oder "dem Nachbarn"
Pakistan.
Nach diesem Kurswechsel hatten Vajpayees
Koalitionäre in der
Zentralregierung nur noch die Wahl, dieser
Linie zu folgen oder
auszuscheren, wozu sich bislang keine
Partei durchringen konnte. So
erschien denn auch ein Krieg gegen den
Erzfeind Pakistan nicht nur das
probate Mittel, um Zweifel, Unbehagen oder
gar ein demokratisches
Gewissen zu beschwichtigen. Er bot sich
auch an, um von der nationalen
Tragödie eines zutiefst traumatisierten
Gujarat abzulenken - die innere
Logik einer Politik, die Administration
nahezu vollständig durch pure
Ideologie ersetzt und sich stets von Neuem
gezwungen sieht, dies zu
rechtfertigen.
Nuklearer Schatten über Kaschmir
Indiens Nukleardoktrin, die im August
1999 vorgelegt und kurze Zeit später
beschlossen wurde, fordert zwar nur
eine "minimale atomare
Abschreckungskapazität" bei Verzicht
auf einen nuklearen Erstschlag. Die
Festlegungen zum Bewaffnungsgrad und
der Reichweite von Kernwaffen
gleichen aber denen der Atommächte. Die
Doktrin beschreibt den Aufbau
einer Triade von land-, luft- und
seegestützten Nuklearstreitkräften mit
mehrfacher Redundanz. Damit soll
garantiert werden, dass Indien einen
Atomschlag überlebt und fähig ist,
angemessen zu reagieren, also einen
"Vergeltungsschlag" zu führen, dessen
Wirkung "für den Gegner
inakzeptabel hoch" sein soll.
In der Präambel der Doktrin wird noch
die traditionelle indische Position
"weltweiter atomarer Abrüstung"
formuliert, dann allerdings "das
unveräußerliche Recht des indischen
Volkes" betont, gegenüber "den
offensiven Doktrinen ... von einigen
wenigen" eigene Atomstreitkräfte zu
entwickeln, zu dislozieren und
einzusetzen. Der Konsens der
staatstragenden politischen Parteien,
der strategic community, ist einhellig.
Konflikt-Chronik
-
1947 - Indian Independence Act
Nach 200 Jahren britischer
Kolonialherrschaft entstehen 1947 zwei
Staaten - das hinduistische Indien und
das muslimische Pakistan.
Anschließenden Grenzkonflikten und
ethnischen Feindschaften fallen
500.000 Menschen zum Opfer.
- 1948 - erster Krieg um Kaschmir
Nachdem der Hindu Maharadscha den
Beitritt Kaschmirs in die Indische
Union proklamiert hat und Delhi Truppen
nach Srinagar entsendet, bricht
der erste indisch-pakistanische Krieg
aus. Er endet 1949 mit einem von
der UNO vermittelten Waffenstillstand.
- 1965 - zweiter Krieg
Mit diesem Waffengang ändert sich an
der Aufteilung der Region in den
indisch verwalteten Bundesstaat Jammu
und Kaschmir und das
pakistanische Azad Kashmir (freies
Kaschmir) nichts. 1972 schreibt das
Friedensabkommen von Simla den Status
quo fest.
- 1971 - dritter Krieg
Die indische Armee unterstützt mit
militärischen Operationen die
Abspaltung Ost-Pakistans von
West-Pakistan, es entsteht die
Volksrepublik Bangladesh.
- 1999 - "Kargil-Krieg"
Pakistanische Einheiten und muslimische
Guerillatruppen besetzen im
Mai 1999 die Kaschmir-Regionen Kargil
und Drass. Massive
Gegenangriffe Indiens führen zur
vierten militärischen Konfrontation seit
1947.
Aus: Freitag 23, 31. Mai 2002
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