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"Kampf um Land im eigenen Land"

Geplante Offensive der indischen Regierung gegen Naxaliten stößt auf Widerstand

Von Jürgen Weber *

Seit rund 40 Jahren kämpfen maoistische Gruppen in Indien für eine »Volksdemokratische Revolution«. Der Naxaliten-Bewegung, deren Name auf ein Dorf im Bundesstaat West-Bengalen zurückgeht, will die Regierung mit einer Doppelstrategie aus militärischer Offensive und Entwicklungsprojekten nun den Garaus machen.

Die indische Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy befürchtet Schlimmes: Sollten die Angriffe gegen die Naxaliten-Bewegung wie angekündigt ausgeführt werden, bedeute dies »die offizielle Anerkennung des Bürgerkrieges«, so Roy. »Wie die Sicherheitskräfte in den Wäldern zwischen Maoisten, Sympathisanten und Unbeteiligten unterscheiden sollen, weiß niemand.«

Die Naxaliten haben sich mittlerweile auf ein Drittel der 602 Verwaltungsdistrikte des Landes ausgebreitet und besonders unter den gesellschaftlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen wie den Adivasis (Indiens de facto indigenen Bevölkerungsgruppen) und den Dalits (den ehemals »Unberührbaren«-Kasten) großen Rückhalt.

Naxalitische Gruppen waren mit die ersten nicht-indigenen Bewegungen, die Adivasis, die Ärmsten der Armen im Land, in ihrem Kampf gegen Ausbeutung und Misshandlungen unterstützen. Besonders Jugendliche schlossen sich ihnen an. Im Laufe der Zeit wurden ihre Methoden jedoch autoritär. Anschläge und Bestrafungsaktionen richteten sich nun auch des öfteren gegen Adivasi-Gemeinschaften, wenn sie in Verdacht gerieten, mit Regierungsbehörden zu kooperieren. Nicht alle Naxaliten-Gruppen folgen dabei der Strategie des bewaffneten Aufstands. Die Bewegung insgesamt besitzt die Fähigkeit, die verschiedenen sozialen, politischen und ideologischen Ansätze zu vereinen.

Für die indische Regierung stellen die Naxaliten heute die »größte interne Sicherheitsbedrohung« dar. Nun soll das »Problem« offenbar mit einer Doppelstrategie aus militärischer Offensive und dem Ausbau von Entwicklungsprojekten gelöst werden. Menschenrechtsgruppen und Nichtregierungsorganisationen befürchten allerdings, dass eine militärische Eskalation zu einem »Abschlachten von Tausenden von Menschen und einem lang anhaltenden, blutigen und brutalen Guerillakrieg« führen wird. Sie befürchten zudem, dass die von der Regierung geplante Offensive nur ein Vorwand für einen Angriff ist, insbesondere auf die Adivasis, mit dem Ziel »jeglichen Dissens und Widerstand zu unterdrücken und die Übernahme ihrer Ressourcen zu erreichen«. Das ließ die »Kampagne für das Überleben und die Würde« in einer Pressemitteilung Mitte Oktober verlauten. Die Kampagne ist eine nationale Plattform von Adivasis und den Organisationen der Waldbewohner aus zehn Bundesstaaten.

Der Aktionsplan der indischen Regierung zur »Bekämpfung des Linksterrorismus« sieht vor, dass das Truppenkontingent der paramilitärischen Sicherheitspolizei (CRPF) und der Spezialeinheiten zur Bekämpfung der Naxaliten (CoBRA) bis Ende des Jahres in allen von der Rebellion betroffenen Distrikten erheblich aufgestockt wird. In insgesamt 20 indischen Bundesstaaten könnte es dann zu militärischen Aktionen gegen die Naxaliten-Bewegung kommen.

Zur gleichen Zeit wurde ein Programm zum Ausbau von Sicherheits- und Entwicklungsprojekten (Polizeistationen, Schulen, Straßenbau, Gemeindezentren etc.) in den am meisten umkämpften Regionen aufgelegt. Die Gebiete sollen erst »gesäubert« werden, dann könne schon einen Monat später die zivile Ordnung wiederhergestellt werden, hieß es Anfang Oktober aus dem Innenministerium in Delhi.

Für Sudha Bharadwaj von der Partei »Chhattisgrah Befreiungsfront« käme das »einem umfassenden Krieg gegen Hunderttausende Menschen« gleich. Verschiedene Naxaliten-Gruppen haben einen entschiedenen Widerstand gegen die Pläne der Regierung angekündigt und zur Einigkeit gegen den »Staatsterrorismus« aufgerufen.

Besondere Zustimmung erhielten die Naxaliten in den 80er Jahren im sogenannten Stammes-Gürtel im Norden Indiens unter den mehrheitlich von Adivasis bewohnten rohstoffreichen Waldgebieten der Bundesstaaten Jharkhand und Chhattisgrah. Große Flächen, die vormals von den unabhängigen und selbstversorgenden Adivasi-Gemeinschaften kultiviert wurden, liegen hier heute brach. Die Menschen wurden in den letzten Jahrzehnten aus ihren Dörfern vertrieben – »zum Schutz der Adivasis vor den Maoisten«. Nun leben sie entlang der Straßen unter freiem Himmel und leiden an Mangelernährung und Hunger. Viele andere werden vermisst oder sind in die angrenzenden Bundesstaaten geflohen. Je schneller Indien zu einem Schwergewicht in der Weltwirtschaft aufstieg, desto mehr Land der Adivasis fiel Staudammprojekten, Bergwerken und Industriekomplexen zum Opfer.

Erschießungen in »präventiver Notwehr«, wahllose Verhaftungen und das Nichtbearbeiten von Anzeigen wegen Vergewaltigungen und Folter sind ein Ausdruck der alltäglich zu erfahrenen Abwesenheit der zivilen Ordnung in Jharkhand und Chhattisgrah. Für die Polizei und die von den Regionalbehörden aufgebaute anti-maoistische Bürgermiliz (Salwa Judum), gehören automatisch alle der Naxaliten-Bewegung an, die sich der Vertreibung auch mit friedlichem Protest entgegenstellen oder sich gegenüber den Behörden als nicht kooperativ zeigen. Wenn der Staat wirklich Entwicklung anstrebt, so die »Kampagne für das Überleben und die Würde«, »soll er zuerst einmal die eklatante Missachtung seiner eignen Gesetze beenden«.

Nichtregierungsorganisationen machen darauf aufmerksam, dass große Bergbauunternehmen wie Tata Steel, das britische Bergbauunternehmen Vedanta Resources und andere nur darauf warten, die Vorkommen in Chhattisgrah ungestört ausbeuten zu können, vor allem wegen des hochwertigen Eisenerzes und Bauxits. Auch für die EU-Länder, die auf Importe von Bauxit sowie Kupfer und Eisenerze angewiesen sind und auf liberale Ausfuhrbestimmungen in den Abbauländern drängen, dürften die Rohstoffe in Chhattisgrah von Interesse sein. »Reduzierte Exportbeschränkungen für diese Mineralien sowie liberalisierte Investitionsregelungen werden die Konflikte und die gewaltsame Landvertreibungen in rohstoffreichen Gebieten weiter zuspitzen«, heißt es in einer Studie des Evangelischen Entwicklungsdienstes von 2009 über das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien. Was heute in Indien passiere, sagt Arundhati Roy, sei eine interne Kolonisierung, ein »Kampf um Land im eigenen Land«.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Oktober 2009


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