Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ghandy und der Naxalismus

Namhafter Revolutionär geht Indiens Sicherheitsdiensten ins Netz

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Indiens Sicherheitsdienste feiern einen angeblich großen Fang: Am 21. September haben sie Kobad Ghandy, einen führenden Ideologen der illegalen KP Indiens (Maoistisch) und Politbüro-Mitglied dieser Partei, festgenommen. Der 63 Jahre alte Revolutionär hielt sich zur Behandlung eines Krebsleidens in Neu-Delhi auf und war deshalb seit fast acht Monaten nicht mehr politisch aktiv. Die Medien bauschten seine Festnahme zu einem »Riesenerfolg im Kampf gegen den Terrorismus« auf, obwohl gegen Ghandy keinerlei Anzeigen wegen irgendwelcher Gewaltakte vorliegen.

Seit Monaten versuchen indische Polizeieinheiten, unterstützt von militärischen Spezialkommandos, gegen die Naxaliten-Bewegung in die Offensive zu gehen. Die Naxaliten, benannt nach einer Ortschaft in Westbengalen, wo in den 1960/70er Jahren Bauern revoltierten, sind weitgehend identisch mit den Maoisten. Sie haben heute Einfluß und Anhang in über 20 Bundesstaaten und treten mit militanten Aktionen vor allem für die Interessen der indigenen Bevölkerung (Adivasi), für die Landlosen und Entrechteten in den ländlichen Gebieten ein. Die Herrschenden bewerten dieses Engagement als die »ernsteste Bedrohung der inneren Sicherheit« des Landes, sehen sie darin doch einen vehementen Angriff auf die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse, die von schreiender sozialer Ungerechtigkeit geprägt sind.

Im Kampf gegen den »Linksextremismus«, gegen die »Roten Ultras« und »linken Terroristen«, wie die von den Medien verwendeten Synonyme für die Naxaliten lauten, hat das indische Innenministerium dieser Tage eine Anzeigenoffensive in den großen Tageszeitungen gestartet. Darin werden die Maoisten als »routinemäßige Killer ohne jede Ideologie« porträtiert. Der Erfolg dieser Kampagne ist allerdings zweifelhaft, denn diese Zeitungen werden in den Gegenden, wo die Naxaliten operieren, gemeinhin gar nicht gelesen. Mit den Anzeigen will die Regierung offensichtlich den »Krieg gegen die maoistischen Insurgenten« eskalieren, wie es die Zeitung The Hindu am Donnerstag formulierte. Erwogen wird demnach der Einsatz von noch mehr Spezialkommandos, was im Innenministerium allerdings als zweischneidiges Schwert beurteilt wird. Denn man würde nichts gewinnen, wenn bei dieser Strategie die Zahl getöteter unschuldiger Adivasi ins Unermeßliche stiege und damit deren Sympathie für die Naxaliten nur noch wachse.

Von Verhandlungen mit den Maoisten hält die Regierung nicht viel, nachdem entsprechende Versuche zwischen 2004 und 2006 ergebnislos verlaufen waren. Allerdings deutete Premier Manmohan Singh unlängst einen realistischen Ansatz an, als er vor Polizeioffizieren erklärte: »Linksextremismus erfordert eine nuancierte Strategie, da er nicht als simples Problem von Gesetz und Ordnung behandelt werden kann.« Die Bewegung, so Singh, habe Unterstützung unter den Adivasi und den Ärmsten der Armen in vielen Gebieten. Und sie habe Einfluß in der Bürgergemeinschaft, der Intelligenz und der Jugend.

Kobad Ghandy stieß vor üeber 30 Jahren zu den Maoisten. Er stammt aus einer wohlhabenden Parsen-Familie, studierte an der renommierten Doon School und ließ sich beim Studium in London von linkem Gedankengut inspirieren. Nach seiner Rückkehr ins heimatliche Bombay wollte er »sein Indien kennenlernen« und ging zuerst in die Slums der Millionenmetropole. Freunde von ihm loben seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, seine hohe Selbstdisziplin, sein striktes Eintreten für die Rechte der Armen, der Adivasi, bei denen er 15 Jahre im Untergrund spartanisch lebte, der Kastenlosen und der Frauen. Sie kennen Ghandy nicht als Prediger von Gewalt, sondern als Mann mit Visionen von einer gerechten neuen Welt. »Unser Kampf«, so formulierte er, »ist gegen Landraub und Ausbeutung der Armen gerichtet und konzentriert sich auf das ländliche Indien«. An dieser Orientierung wird sich auch nichts ändern, wenn Kobad Ghandy der Prozeß gemacht wird. Der Naxalismus reflektiert tiefe soziale Widersprüche und wird solange als Problem bestehen bleiben, wie der Staat sich nicht ernsthaft für deren Überwindung einsetzt.

* Aus: junge Welt, 25. September 2009


Zurück zur Indien-Seite

Zurück zur Homepage