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Das Phänomen der Naxaliten

Lutz Getzschmann legt eine detaillierte Studie über maoistische Gruppen in Indien vor

Von Peter Nowak *

Seit rund 40 Jahren kämpfen maoistische Gruppen in Indien für eine »Volksdemokratische Revolution« – die sogenannten Naxaliten. Der Frankfurter Politologe Lutz Getzschmann hat eine umfangreiche Untersuchung über die Geschichte und die politische Praxis der Naxaliten vorgelegt. Der indischen Regierung ist sie seit langem ein Dorn im Auge: Die Naxaliten-Bewegung, deren Name auf das Dorf Naxalbari im Bundesstaat West-Bengalen zurückgeht. Die Regierung versucht seit geraumer Zeit, ihr mit einer Doppelstrategie aus militärischer Offensive und Entwicklungsprojekten beizukommen.

In der letzten Zeit hat sich in vielen indischen Bundesstaaten die innenpolitische Situation enorm verschärft. Die Zahl der ermordeten Bäuerinnen und Bauern wächst. Die indischen Behörden erklären offiziell, bei den Toten handele es sich um Naxaliten. Viel war bisher über diese Bewegung hierzulande nicht bekannt. Das Werk des Frankfurter Politologen Lutz Getzschmann »Naxaliten – Agrarrevolution und kapitalistische Modernisierung«, verschafft diesem Missstand Abhilfe.

In Naxalbari fand 1967 ein Bauernaufstand statt, der zu einem Weckruf für die indische Linke jenseits der damals schon sozialdemokratisierten kommunistischen Parteien wurde. Auch viele junge Linke von den Universitäten der indischen Metropolen begannen sich für die Kämpfe auf dem Land zu interessieren.

Die studentischen Linken und die bäuerlichen Aktivisten sind noch heute die beiden Säulen der Naxalitenbewegung, deren Geschichte Getzschmann in dem Buch sehr gründlich aufarbeitet. Der Autor zeigt dabei, dass sie trotz vieler Niederlagen noch immer ein Faktor der indischen Politik sind. Er verschweigt auch nicht teilweise gravierende politische Fehler der Naxaliten in den letzten Jahrzehnten. So hätten sich einige der von den Naxaliten initiierten Auseinandersetzungen, die als ländliche Klassenkämpfe angelegt waren, ethnisiert und zu blutigen Kastenkriegen entwickelt. Getzschmann zeichnet auch die Spaltungen innerhalb der naxalitischen Bewegung nach.

Er skizziert den politischen Kontext, in dem sich die Bewegung entwickeln konnte und zeigt auch ihre Grenzen auf. So gelang es ihnen bisher nicht, sich auch in den Metropolen festzusetzen. Vielmehr leisten die universitären Kader Unterstützung für die ländlichen Kämpfe. Als Beispiel für einen Fehler auf theoretischem Gebiet führt er die Etappentheorie an, die die Naxaliten als maoistisches Erbe mit sich rumschleppen. Sie besagt, dass nicht der Sozialismus sondern eine »neue Demokratie« in Indien auf der Revolutionsagenda stehe.

Auch die Betrachtung Indiens als semifeudalistischer und halbkolonialistischer Staat gehe an der Realität der heutigen aufstrebenden Weltmacht Indien vorbei. Gerade diese Entwicklung könnte dafür sorgen, dass die Naxaliten zunehmend unter staatlichen Druck geraten. Mehrere der Provinzen, in denen die Bewegung stark ist, werden zunehmend für das indische aber auch das ausländische Kapital interessant. Dort finden sich wichtige Bodenschätze, die sich profitabel verwerten lassen. Bei diesen Plänen stören Bewohner und soziale Bewegungen, die sich gegen die kapitalistische Durchdringung dieser Provinzen wehren, weil sie ihnen ihre Existenzgrundlagen raubt. Unter dem Deckmantel der Naxalitenverfolgung könnte die indische Aufstandsbekämpfung gegen die gesamte soziale Bewegung weiter zunehmen. Getzschmann hat daher mit seinen Buch zur richtigen Zeit die Naxalitenbewegung in den Fokus der deutschsprachigen Linken gerückt.

Lutz Getzschmann: »Naxaliten – Agrarrevolution und kapitalistische Modernisierung«. Neuer ISPVerlag, Köln 2011, 415 Seiten, 32 Euro.

* Aus: Neues Deutschland, 6. September 2011


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