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Todesursache Mißernte

Rückständig: Auch über den Jahreswechsel kam es wieder zu Selbstmorden von überschuldeten Kleinpächtern im Süden Indiens

Von Thomas Berger, Hyderabad *

Wer derzeit durch den indischen Unionsstaat Andhra Pradesh fährt, dessen Blick fällt auf das helle Grün junger Reispflanzen. Männer und vor allem Frauen sind dabei, die Bündel zu vereinzeln, stehen im knöcheltiefen Wasser, um ein weiteres Feld mit den Setzlingen zu bestücken. Hier werden die Vorbereitungen für die nächste Saison getroffen, aber einige Äcker könnten diesmal leer bleiben. Die erst kurz zurückliegende Ernte war bestenfalls mäßig, in vielen Fällen sogar katastrophal. Nicht zuletzt dies hat die Zahl der Selbstmorde von Kleinbauern wie im Jahr 2009 (jW berichtete) erneut ansteigen lassen.

Im Dezember hatte es heftig geregenet. Das war unüblich für die Region und hatte einen Großteil der Ernte ruiniert. Die Bauern konnten nur einen Bruchteil des Erwarteten einbringen. Da viele ohnehin verschuldet waren, gerieten sie mit ihren Zahlungen weiter in Rückstand. In finanziell auswegloser Lage sahen manche im Suizid den einzigen Ausweg.

Zwar beziffern offizielle Stellen im Unionsstaat die Fälle bisher nur auf 30, doch in den Medien wird von mindestens 105 geschrieben. Die Tageszeitung The Hindu geht sogar von bis zu 300 Fällen aus. Gerade erst wieder hat das wöchentlich erscheinende Politmagazin India Today einen Beitrag zum Thema gebracht und hatte darin Beispiele herausgegriffen. Regalla Subbaiah (30), eines der Suizidopfer, hatte je zwei seiner kleinen Felder mit Chillies und Baumwolle, eines mit Reis bestellt. Dafür gab er insgesamt 270000 Rupien (rund 4700 Euro) aus. Doch die Ernte brachte kaum Einnahmen. Zudem mußte er für Arztkosten aufkommen, so daß sein Schuldenberg auf 500000 Rupien anwuchs. Den hinterließ er seiner Witwe und den beiden Kindern.

Auch Medithi Narasimha Rao (32) konnte bei Baumwolle nur knapp ein Viertel des erwarteten Ertrages erzielen, wie India Today berichtete. Bei Reis war die Ausbeute von 35 auf 16 Sack pro Acre (ein Acre sind 0,4 Hektar) geschrumpft. Rao trank Pestizid, weil er dem Landbesitzer selbst die Pacht für die nächste Saison nicht mehr zahlen konnte.

Rao und auch Subbaiah waren, wie viele ihrer Kollegen, nicht Eigentümer der von ihnen bewirtschafteten Flächen. Fast die Hälfte der zwölf Millionen Bauern in Andhra Pradesh beackern nur gepachtete Felder. Das zugrundeliegende Pachtgesetz ist mehr als 50 Jahre alt, und die Vorschriften von 1956 sehen vor, ein Drittel der Ernte an den Eigentümer abzuführen – zusammen mit der Pacht für die nächste Saison – im Voraus. Eine Regelung, die es in guten Jahren erlauben mag, über die Runden zu kommen. Doch oft müssen Kredite aufgenommen oder die bereits vorhandene Schulden aufgestockt werden. Meist sind die Flächenbesitzer zudem gleichzeitig die Geldverleiher, können Zinsen weitgehend nach Gutdünken festlegen.

»Die aktuellen Selbstmorde sprechen von einer ernsthaften landwirtschaftlichen Krise«, wurde dieser Tage M.S. Swaminathan von The Hindu zitiert. Der Wissenschaftler sieht nicht nur die persönlichen Tragödien, sondern auch Gefahren für die Ernährungssicherung der 1,1 Milliarden Einwohner. Bereits unmittelbar nach Indiens Unabhängigkeit 1947 hatte der erste Premier, Jawaharlal Nehru, auf die Bedeutung der Landwirtschaft für den Subkontinent verwiesen. Diese herausragende Rolle spielt sie auch heute noch. »Wenn Politiker das nicht erkennen, führen sie das Land ins Desaster«, so der Professor einer Agrarhochschule in Hyderabad. Es gebe noch immer keine Sicherungssysteme, um Bauern vor dem Auf und Ab der Naturgewalten zu schützen. Ein erster Gesetzesvorstoß dazu steckt seit 2007 im Parlament fest.

Die aus der Regionalpartei TDP, den beiden kommunistischen Parteien (CPI-M und CPI) und einigen weiteren regionalen Gruppen bestehende Opposition fordert wenigstens 10000 Rupien (175 Euro) pro Hektar Soforthilfe. Die leere Staatskasse, so Chefminister Kiran Kumar Reddy (Kongreßpartei INC), gebe aber nicht mehr als 6000 Rupien pro Hektar her. Unterstützung nach Kassenlage, das ist für die Bauern in ganz Indien ein alter Hut. Zwar hat die Kongreßpartei, dominierende Kraft in der in Delhi regierenden Vereinten Progressiven Allianz (UPA), einen teilweisen Schuldenerlaß für Landwirte durchgesetzt. Strukturelle Probleme wie Wucherzinsen oder ungerechte Vorschriften aber bleiben. Und auch in anderen Unionsstaaten wie dem benachbarten Karnataka oder der rückständigen Vidharba-Region des westindischen Maharashtra kommt es immer wieder zu Selbstmorden. Im gesamten Jahr 2009 hatten sich 17368 Bauern das Leben genommen, hatte kürzlich Prakash Karat, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens/Marxistisch (CPI-M), erklärt.

* Aus: junge Welt, 12. Januar 2011


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