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Metros für Millionen

Renaissance eines Verkehrsmittels. Indien setzt nach einem Vierteljahrhundert auf den Klassiker Schnellbahn. Zug in die Moderne

Von Thomas Berger *

Die jüngste Metro des indischen Subkontinents fährt erst seit einem Monat. Am 20. Oktober rollten die ersten U-Bahn-Züge durch die IT-Metropole Bangalore. Ein Aufgebot von Ehrengästen verfolgte die Eröffnung im südindischen Unionsstaat Karnataka, darunter Kamal Nath, Bundesminister für urbane Entwicklung. Auf immerhin sieben Kilometern Länge verbindet das Transportmittel die östlichen Vororte mit dem wirtschaftlichen Zentrum der Sieben-Millionen-Stadt. Das Netz wird noch ausgebaut. Ende 2013 sollen weitere 35 Kilometer Streckenlänge fertig sein, neun davon unterirdisch. Die Baukosten belaufen sich auf stolze 116 Milliarden Rupien, umgerechnet knapp 1,8 Milliarden Euro.

Indische Stadt- und Verkehrsplaner sind begeistert von der öffentlichen Schnellbahn. Mehrere Dutzend Projekte sind in Planung oder werden bereits umgesetzt. Die U-Bahn erobert Südasien und soll den drohenden Verkehrskollaps in den Ballungszentren verhindern. Rund 20 Millionen Einwohner leben in der Wirtschaftsmetropole Mumbai (Bombay), fast 18 Millionen in der Hauptstadt Delhi und 16 Millionen in Kolkata (Kalkutta). Neun Millionen Menschen wohnen in Madras und jeweils mehr als sieben Millionen in Hyderabad und Bangalore. In weiteren Millionenstädten warten Passagiere darauf, transportiert zu werden. Hunderttausende Pendler verstopfen bislang mit ihren Autos die Straßen, weil sie aus Kostengründen in den Randbezirken wohnen, obwohl sie in der City arbeiten. Auch der Einsatz von Bussen, Minibussen, Taxen und Motor-Rikschas nimmt zu.

Es ist mehr als ein Vierteljahrhundert her, seit in Kalkutta die erste U-Bahn-Verbindung Indiens in Betrieb ging. Nach fast 20 Jahren Planung und Bauzeit war das Projekt damals wegweisend, blieb jedoch für lange Zeit das einzige seiner Art. Zu kostenintensiv erschien in den seinerzeitigen Analysen ein weitgespanntes Netz in anderen Landesteilen. Die Metro verlor für geraume Zeit ihre Vorbildfunktion für andere Städte. Mit dem 2002 eröffneten und seither ausgebauten U-Bahn-System in der Hauptstadt Delhi zeigte sich jetzt erneut die Leistungsfähigkeit des modernen Verkehrsmittels. Das weckte Begehrlichkeiten, ließ aber den Umstand außer acht, daß nicht jede Großstadt nach der Blaupause Delhis funktioniert.

In Kolkata wird das Metronetz inzwischen erweitert. Im August 2009 ging eine Verlängerung der existierenden Nord-Süd-Linie in Betrieb. Die Gesamtzahl der Fahrgäste stieg schon wenige Wochen nach der Eröffnung um 50000 auf 475000 Passagiere pro Tag. Während das nationale Eisenbahnministerium zwei weitere Strecken mit einer Länge von 17,6 und 21,5 Kilometern noch prüft, baut der Unionsstaat Westbengalen schon eine Ost-West-Querung über 14,7 Kilometer. Die Kosten dafür werden auf umgerechnet 750 Millionen Euro veranschlagt. Ende 2014 soll die Linie fertig sein und täglich fast eine halbe Million Pendler befördern.

Dagegen nehmen sich die 20000 Passagiere, welche die brandneue U-Bahn in Bangalore nutzen, geradezu bescheiden aus. Doch es wird mit Hochdruck weitergebaut. Auch in Mumbai ist es bald soweit: Eine erste Strecke von 11,7 Kilometern in Ost-West-Richtung soll im ersten Halbjahr 2012 in Betrieb gehen. Für eine 38 Kilometer lange Nord-Süd-Verbindung ist der Auftrag bereits vergeben. Ein Konsortium des größten indischen Mischkonzerns Reliance Industries mit einem kanadischen Partner konnte sich den Zuschlag sichern. Gebaut wird erstmals nach dem Modell einer Öffentlich-Privaten Partnerschaft (ÖPP). Die Konzession läuft über 35 Jahre, die Gesamtkosten belaufen sich bei diesem Projekt auf umgerechnet 1,7 Milliarden Euro.

Die Aufträge sind lukrativ. Allein in Mumbai soll das Netz in den nächsten Jahren schrittweise auf 146 Kilometer ausgebaut werden. Ob Jaipur, Chandigarh oder Ahmedabad – allerorten gibt es inzwischen ähnliche Planungen. Einheimische Baukonzerne wie der Marktführer Larsen & Toubro wittern ebenso Profit wie Interessenten aus Übersee. Die könnten Ausstattung und Technologie liefern. So hat sich eine Siemens-Tochter den Zuschlag für die Elektrifizierung der Ost-West-Verbindung in Kolkata gesichert. Zuvor gab es einen erfolgreichen Deal für die neue Metro-Anbindung des Flughafens von Delhi. Die Triebwagen kamen anfangs aus Südkorea und Japan. Die Bahnen für die zweite Bauphase stellte Bombardier her – erst in Deutschland und Schweden, dann in Indien selbst. Delhi setzt auf Expan­sion. Derzeit fahren die Züge von sechs Linien auf fast 200 Kilometern bis weit ins Umland. Bis 2015/16 sollen noch 112 Kilometer für geschätzte 300 Milliarden Rupien (4,6 Milliarden Euro) dazukommen. Bis 2021 ist der Endausbau geplant. Mit 450 Kilometern wäre das Metronetz dann eines der längsten der Welt.

In Delhi hat sich schnell eine spürbare Entlastung der Straßen bemerkbar gemacht. Doch der Siegeszug der Schnellbahnen kommt gelegentlich ins Stocken. In Bangalore hatte sich die Realisierung des U-Bahn-Projektes Jahr um Jahr verzögert. Vielerorts gibt es Überlegungen, ob ein Netz hochmoderner Omnibusse nicht effektiver und sogar ökologischer sei . Erheblich kostengünstiger wäre es in jedem Fall.

* Aus: junge Welt, 28. November 2011


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