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Das Phalcon-Geschäft

Was steckt hinter der "strategischen Allianz" Indien-Israel?

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der Tageszeitung "junge Welt".


Von Knut Mellenthin

Ein »historisches Abkommen« unterzeichneten am 10. Oktober Vertreter Indiens, Israels und Rußlands. Israel wird den Indern sein Radar-Frühwarnsystem Phalcon – eine modernisierte, effektivere Variante des von der NATO benutzten AWACS – liefern. Der Umfang dieses Geschäfts wird auf rund eine Milliarde Dollar geschätzt. Die israelische Technologie soll in drei oder vier russische Iljuschin-76-Transportflugzeuge eingebaut werden.

Generaldirektor Amos Jaron vom israelischen Verteidigungsministerium bezeichnete das Abkommen als Einstieg in eine neue Ära der Zusammenarbeit zwischen den Rüstungsindustrien Israels und Rußlands. Ganz neu ist diese Kooperation beider Länder jedoch nicht: Vor allem bei der Modernisierung der türkischen Streitkräfte findet sie schon seit mehreren Jahren statt.

Der formale Vertragsabschluß über die Lieferung des Phalcon-Systems wurde erst möglich, nachdem die amerikanische Regierung im August erklärt hatte, sie habe keine Einwände mehr gegen das Geschäft. Zuvor waren die Verhandlungen 18 Monate blockiert gewesen. Die USA hatten ihr Zögern mit der konfliktträchtigen Situation zwischen Indien und Pakistan begründet. Die besteht allerdings nach wie vor. Die pakistanische Regierung hat prompt protestiert und eingewandt, Phalcon werde das militärische Gleichgewicht zugunsten Indiens verändern und die Spannungen zwischen beiden Ländern anheizen.

Chile hat schon 1994 das Phalcon-System erhalten. Türkei und Südafrika gelten als weitere Interessenten. Im Jahr 2000 blockierten die USA die drei Jahre zuvor zwischen Jerusalem und Peking vertraglich vereinbarte Lieferung des Phalcon-Systems an China. Israel mußte sich nach langer Gegenwehr der amerikanischen Forderung beugen. Selbst führende Vertreter der Pro-Israel-Lobby in beiden Häusern des US-amerikanischen Parlaments hatten Druck auf Jerusalem ausgeübt. Ein wesentliches Instrument der USA war die Drohung, die Militärhilfe zu kürzen, die eine permanente Subventionierung der israelischen Rüstungsindustrie in Milliardenhöhe darstellt. Israel beliefert China schon seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre mit militärischer Ausrüstung, darunter auch Hochtechnologie, die zum Teil in Kooperation mit US-amerikanischen Unternehmen entwickelt wurde. Das hat schon mehrfach zu Streit geführt.

Beziehungen erst seit 1992

Die Beziehungen zwischen Indien und Israel waren jahrzehntelang eher kühl. Indien arbeitete wirtschaftlich eng mit der Sowjetunion zusammen, von der es auch den Großteil seiner militärischen Ausrüstung bezog. Neu-Delhi bemühte sich, in der Bewegung der blockfreien Staaten eine führende Rolle zu spielen und unterstützte im israelisch-arabischen Konflikt weitgehend die palästinensische Position. Erst 1992 nahmen Indien und Israel volle diplomatische Beziehungen auf.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Bündnissystems seit Ende der 80er Jahre und schließlich die Auflösung der UdSSR selbst leiteten eine Kehrtwende im israelisch-indischen Verhältnis ein. Die 1991 begonnene »Liberalisierung« der indischen Wirtschaft machte das Land zu einem interessanten neuen Markt. Der Handel mit Israel nahm von knapp 200 Millionen Dollar 1992 auf mehr als eine Milliarde im Jahr 2000 zu und entwickelt sich zügig weiter.

Das stärkste Wachstum weist der israelische Rüstungsexport auf. Israel ist heute nach Rußland zweitgrößter Waffenlieferant Indiens. Das Volumen der bisher geschlossenen Verträge wird auf drei Milliarden Dollar geschätzt. Vor wenigen Jahren lag Indien für den israelischen Waffenexport noch an dritter Stelle hinter China und der Türkei, inzwischen ist es mit rund 800 Millionen Dollar jährlich wahrscheinlich zum Hauptabnehmer geworden.

Unter anderem spielen israelische Unternehmen die führende Rolle bei der Modernisierung der von Indien verwendeten russischen Waffen, von der MiG-17 und -21 bis zum T-72-Panzer. Das hat zugleich auch die israelisch-russische Kooperation auf dem Gebiet der Militärproduktion gefördert.

Eine Beschleunigung und Intensivierung der Annäherung zwischen Israel und Indien ergab sich durch den Wahlerfolg der extremistischen Hindu-Partei, Bharatija Janata (BJP), die 1998 die 44 Jahre lang regierende Kongreß-Partei ablöste. Innenminister Advani, der »starke Mann« der BJP und heimliche Regierungschef, gilt als großer Bewunderer Israels. Er unterhält erstklassige Beziehungen zu dessen Geheimdiensten Mossad und Schin Bet. Schon als Oppositionsführer war Advani 1994 erstmals nach Israel gereist. Ihm wird eine maßgebliche Drahtzieherrolle bei gewalttätigen Provokationen gegen die Moslem-Bevölkerung, wie der Zerstörung von Moscheen, zugeschrieben. Während die Kongreß-Partei sich zum Erhalt ihrer Regierungsfähigkeit um die Stimmen der rund 120 Millionen Moslems des Landes (zwölf bis 13 Prozent der Bevölkerung) bemüht hatte, ist die BJP eindeutig anti-moslemisch orientiert und sieht in dieser Hinsicht Israel als Verbündeten und Vorbild an.

Ein zeitweiliges hartes Hindernis für die Entwicklung des israelischen Rüstungsexports waren die Sanktionen, welche die US-Regierung 1998 gegen Indien und Pakistan verhängte, nachdem beide Länder mehrere Atombombentests durchgeführt hatten. Das amerikanische Embargo, dessen allzu offene und massive Mißachtung Israel sich nicht leisten konnte, wurde nach dem 11. September 2001 gegenüber beiden Ländern aufgehoben.

Nukleare Zusammenarbeit?

Kurz nachdem die BJP die Führung einer Koalitionsregierung übernommen hatte – die Partei selbst hält nur ein Drittel der Parlamentssitze –, führte Indien im Mai 1998 fünf unterirdische Nukleartests durch, von denen einer die Stärke einer Wasserstoffbombe erreichte. Pakistan reagierte mit eigenen Versuchsexplosionen. Beide Länder erklärten sich offiziell zu Atommächten.

Während die US-Regierung die Tests scharf verurteilte und Sanktionen gegen beide Länder verhängte, weigerte sich Israel, sich der amerikanischen Kritik an Indien anzuschließen. Eine weitverbreitete und plausible, aber bisher nicht durch Fakten bewiesene Vermutung ist, daß Israel den Indern erhebliche Unterstützung bei der Entwicklung ihrer Atombombe gegeben hat. Dieser Verdacht wird dadurch genährt, daß Abdul Kalam, der Leiter des indischen Raketen- und Atomprogramms, 1996 und 1997 Israel besuchte und umgekehrt auch israelische Experten nach Indien kamen. Als Innenminister Advani im Juni 2000 Israel besuchte, brachte er die Gastgeber in Verlegenheit, indem er bewußt offen und klar verkündete: »Ich bin dafür, mit Israel auf allen Gebieten zusammenzuarbeiten, vor allem auf nuklearem Gebiet, und diese Zusammenarbeit sollte verstärkt werden.« Selbstverständlich ist die nukleare Kooperation mit anderen Staaten in Israel offiziell absolutes Tabuthema, ebenso wie die eigenen Atomwaffen. Bis heute hat Jerusalem noch nicht einmal deren Existenz bestätigt.

Im Mai 2000 testete Israel im Indischen Ozean eine Cruise Missile, deren Reichweite bei etwa 1 500 Kilometern liegen soll. Mit der nuklear zu bestückenden CM, deren Entwicklung anscheinend noch nicht völlig abgeschlossen ist, sollen vermutlich künftig einmal die drei von Deutschland gelieferten israelischen U-Boote ausgerüstet werden. Israel würde dadurch die Fähigkeit gewinnen, auch weit entfernt liegende Staaten anzugreifen – zumal wenn es Stützpunkte in verbündeten Ländern wie Indien nutzen könnte. Eine entsprechende Zusammenarbeit mit Indien soll es bereits bei dem CM-Test vom Mai 2000 gegeben haben.

Ein denkbares israelisches Ziel, über das schon seit Jahren spekuliert wird, könnten die pakistanischen Atomanlagen sein. Seit der Zerstörung des irakischen Atomreaktors von Osirak am 7. Juni 1981 hat Israel nie einen Zweifel gelassen, daß es sich grundsätzlich berechtigt fühlt, jedes islamische Land anzugreifen, das Atomwaffen entwickelt.

Eine Militäraktion gegen Pakistan entspräche wohl auch den Wünschen Neu-Delhis. Sowohl Israel als auch Indien werden aber wahrscheinlich von einem solchen ohnehin nicht ganz unproblematischen Unternehmen die Finger lassen, so lange das seit dem 11. September 2001 relativ gute Verhältnis zwischen US-amerikanischer und pakistanischer Regierung andauert.

Hilfe in Kaschmir?

Der Kaschmir-Konflikt ist ein natürliches Feld gemeinsamer israelischer und indischer Interessen. Nach Erlangung der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 führten Indien und Pakistan 1948 Krieg um das mehrheitlich von Moslems bewohnte Gebiet, der mit einem von der UNO überwachten Waffenstillstand an einer vorläufigen Teilungslinie endete. Diese hat sich inzwischen zu einer faktischen Grenze verfestigt. Mehrere Aufforderungen der UNO, die politische Zukunft Kaschmirs in einer Volksabstimmung zu entscheiden, wurden und werden von Neu-Delhi ignoriert. Der heutige indische Bundesstaat Jammu und Kaschmir hat elf bis zwölf Millionen Einwohner, von denen 70 Prozent Moslems sind. Sie leben hauptsächlich im Kaschmir-Tal, während andere Teile des Bundesstaates hinduistische oder buddhistische Mehrheiten haben.

Seit Jahren sind in Jammu und Kaschmir bewaffnete nationalistische und islamistische Organisationen aktiv, die mehr oder weniger alle Unterstützung aus Pakistan erhalten. Die von der BJP in Neu-Delhi dominierte Regierung hofft, von den vermeintlich erfolgreichen israelischen Erfahrungen bei der militärischen und politischen Repression in den besetzten Palästinensergebieten profitieren zu können.

Ein Ergebnis der Interessengemeinschaft ist seit Mitte der 90er Jahre eine immer intensivere Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten und anderen Sicherheitskräften Israels und Indiens, die seit dem 11. September mit dem Etikett des »Kampfes gegen den Terrorismus« veredelt wird. Das indische Interesse gilt zum einen den langjährigen israelischen Erfahrungen bei der Grenzüberwachung, Grenzabschirmung, Verhinderung des Eindringens feindlicher Kräfte sowie auch der umfassenden Luftüberwachung der besetzten Gebiete, die zugleich eine präzise Zielerfassung für Razzien und Mordanschläge gegen Führer palästinensischer Organisationen ermöglicht. Unter anderem hat Indien zu diesem Zweck mehrere von Israel entwickelte unbemannte Überwachungsflugzeuge, sogenannte Drohnen, erworben. Sie sollen nicht nur in Kaschmir, sondern auch in anderen Konfliktregionen Indiens zum Einsatz kommen. Auch Geräte zum Aufspüren von Grenzüberschreitern oder Gegnern bei »Antiterroroperationen« hat Israel an Indien geliefert.

Neu-Delhi ist außerdem an der Ausbildung seiner Besatzungstruppen und bewaffneten Hilfskräfte in Jammu und Kaschmir durch israelische Experten interessiert. Im September 2000 meldete die Times of India, daß ein Team israelischer Counter-Terrorism-Spezialisten in Jammu-Kaschmir und anderen »aufstandsgefährdeten« Landesteilen unterwegs sei. Innenminister Advani habe während seines Israel-Besuchs im Juni 2000, bei dem er von den Leitern der wichtigsten indischen Geheim- und Sicherheitsdienste begleitet wurde, um diese Mission gebeten.

Von israelischer Seite hieß es damals, die Unterstützung für Indien werde weder Ausbildung von Truppen noch Entsendung von Experten beinhalten, sondern sich beschränken auf »Mitteilung von Informationen, Unterweisung in Operationsmethoden und Verkauf von Ausrüstung«. Seither war in der israelischen Presse aber immer wieder (so in der Jerusalem Post vom 3. Februar 2003) davon die Rede, daß israelische Experten die Ausbildung einer indischen Antiterrorspezialeinheit von 3000 Mann übernehmen sollen. Die Lieferung von 3400 Sturmgewehren, 200 Scharfschützen-Gewehren, Nachtzielgeräten und Laser-Spür- und Zielerfassungsgeräten durch Israel an Indien wurde in diesen Zusammenhang gebracht. Ha’aretz berichtete am 23. September, daß Vorbereitungen für die Durchführung einer gemeinsamen israelisch-indischen Antiterrorübung kurz vom Abschluß stünden.

Von Israel siegen lernen

Parallel und flankierend zur schwungvollen Entwicklung der israelisch-indischen Beziehungen vertieft sich in den USA die Zusammenarbeit der traditionellen Pro-Israel-Lobby mit der neu entstandenen indischen Lobby, die für 1,6 Millionen Inder zu sprechen behauptet, die in den Vereinigten Staaten leben. Die schon seit 1951 tätige Pro-Israel-Organisation, das AIPAC (American Israel Public Affairs Committee), hat sein indisches Pendant, das USINPAC (US India Political Action Committee) unter seine Obhut genommen, unterstützt es bei der Anbahnung und Pflege von Beziehungen, vermittelt seine eigenen langjährigen Erfahrungen in der systematischen Bearbeitung von Kongreßabgeordneten und Senatoren. Beide Lobby-Organisationen arbeiten Hand in Hand, wenn es darum geht, die amerikanische Zustimmung zu bestimmten kritischen israelischen Waffenexporten nach Indien zu erreichen, wie im Fall des Arrow-Raketenabwehr-Systems. Bekannte Israel-Freunde, wie der republikanische Senator Tom Lantos aus Kalifornien, sind fast automatisch auch zu engagierten Fürsprechern indischer Interessen geworden.

Besonders rührig ist auf dem Gebiet der jüdisch-indischen Zusammenarbeit das American Jewish Committee. Das AJC ist, gemessen an der Größe der jüdischen Bevölkerung der USA, eine relativ kleine, aber sehr effektiv arbeitende Organisation, die sich auf der Linie Scharons und teilweise rechts davon bewegt. In der amerikanischen Außen- und Militärpolitik gehört das AJC zur Allianz der Neokonservativen, die heute die Regierung dominieren. Das AJC schickte erstmals 1995 eine Delegation nach Indien; diese Besuche werden seither mindestens einmal im Jahr wiederholt. Seit mehreren Jahren hält das AJC regelmäßig Seminare für indische Aktivisten ab, die in der Kunst des Lobbyismus ausgebildet werden sollen. Das dient gleichzeitig der Herstellung guter persönlicher Beziehungen, ebenso wie die vom AJC organisierten Reisen US-indischer Delegationen nach Israel, wo die Gäste von Politikern und Militärs empfangen wurden. In diesem Jahr hat das AJC ein ständiges Verbindungsbüro in Indien eröffnet.

Engagiert ist auch das amerikanische Jewish Institute for National Security Affairs (JINSA), das ebenfalls zum Spektrum der Neokonservativen gehört. Das JINSA, das gute Verbindungen zu israelischen Militär- und Geheimdienstkreisen unterhält, hat im Juli zum zweiten Mal in Neu-Delhi eine Konferenz über den Kampf gegen den Terrorismus veranstaltet, an der hochrangige »Sicherheitsexperten« aus den USA, aus Indien und Israel teilnahmen. Vor einigen Monaten wurde zusätzlich zu den bestehenden Strukturen das US India Institute for Strategic Policy gegründet. Das USINISP ist eine Filiale des in Washington angesiedelten Center for Security Policy, eines führenden neokonservativen »Think Tank«. Wer in dem neuen Verein das Sagen hat, wurde auf der »Internationalen Konferenz über Terrorismus auf dem indischen Subkontinent« deutlich, die das USINISP im Juli gemeinsamen mit der indischen Lobby-Organisation USINPAC abhielt: Hauptredner waren die bekannten Neocons Frank Gaffney (Präsident des Center for Security Policy), Daniel Pipes (anti-arabischer Haß-Propagandist) und JINSA-Chef Thomas Neumann.

Im strategischen Rahmen der US-Außenpolitik kommt den Beziehungen Israels zu Indien eine klare Bedeutung zu: Die US-Regierung will vorläufig jeden Anschein vermeiden, sie würde einen der beiden verfeindeten Staaten Indien und Pakistan bevorzugen oder benachteiligen. Denn Washington legt Wert auf die enge Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Regime gegen die militanten Islamisten in Pakistan und Afghanistan. Die israelische Regierung hingegen ist durch solche Rücksichtnahme nicht beengt. Sie macht kein Geheimnis daraus, daß sie mit Indien eine »strategische Allianz« anstrebt, deren Gegner in erster Linie Pakistan und der Iran – zu dem Neu-Delhi traditionell gute Beziehungen unterhalten hat – sowie der politische Islam in Indien selbst sein sollen. Scharon hat für diese Politik den kaum versteckten Segen der US-Regierung, wie zuletzt deren Zustimmung zum Phalcon-Geschäft gezeigt hat.

Aus: junge Welt, 4. November 2003


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