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Geld macht gesund

Indiens privater medizinischer Sektor wächst in Rekordtempo. Staatliche Fürsorge verharrt indes auf Niveau eines Entwicklungslandes

Von Thomas Berger *

Stolze 2600 Milliarden Rupien setzt der indische Gesundheitsmarkt derzeit um, das sind umgerechnet 37,1 Milliarden Euro. Tendenz stark steigend. Im zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt (ca. 1,2 Milliarden Einwohner) ist die rasante Aufblähung der privaten Gesundheitsversorgung (engl. Health­care) zwar nicht die Antwort auf drängendste soziale Probleme, aber höchst lukrativ. Nicht nur die Zahl selbst stellt einen neuen Spitzenwert dar. Rekordverdächtig ist auch das Wachstum von zuletzt 20 bis 25 Prozent über die vergangenen fünf Jahre. Bis zum Finanzjahr 2016/17 (gerechnet wird nach amtlichen Vorgaben in Indien immer bis März) könnte es laut aktuellen Prognosen noch einmal beinahe eine Verdoppelung auf dann 4700 Milliarden Rupien geben.

Die Zuwächse resultieren nicht aus einem enormen Anstieg staatlicher Ausgaben für bessere medizinische Versorgung der Bevölkerung. Auch wenn hier durchaus Anstrengungen unternommen werden, wächst der Sektor in erster Linie durch die rasante Zunahme der privaten Investitionen. Mit Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbehandlungen lassen sich immer einträglichere Geschäfte machen. Die Menge der modern ausgestatteten medizinischen Einrichtungen, die zu einem entsprechenden Preis exzellente Dienstleistungen bieten, wird ständig größer. Hyderabad beispielsweise ist nicht nur eine der modernsten Städte auf dem Subkontinent, sondern im Ausland vor allem auch wegen seiner Kliniken bekannt. In denen lassen sich vornehmlich reiche Patienten aus den Golfstaaten behandeln. Dabei sind die Therapien für diese Leute deutlich günstiger als in den Heimatländern. Für die Masse der Einheimischen sind sie unerschwinglich. Pro Jahr sollen Medienberichten zufolge zwischen 600000 und 800000 Medizintouristen nach Indien kommen. Auch hierbei ist die Tendenz deutlich steigend, obwohl genaue Statistiken nicht existieren.

Doch nicht nur auf ausländische Patienten sind die Privatkliniken in den Metropolen und zahlreichen mittelgroßen Städten ausgerichtet. Im Land selbst gibt es mehr und mehr sogenannte Wohlstandserkrankungen, zu denen insbesondere Herz-Kreislauf-Störungen zählen. Mehr Streß sowie ein geändertes Ernährungsverhalten zählen zu den meistgenannten Ursachen dieser Leiden. Die Betreiber von Privatkrankenhäusern und -Ambulanzen wittern da ihre Chance: Vor allem die wachsende Zahl zahlungskräftiger Patienten – in der sogenannten neuen Mittelschicht steigt auch die Menge der Krankenversicherten an – verspricht glänzende Geschäfte ohne große Risiken.

Der expandierende private Gesundheitsmarkt steht in krassem Gegensatz zur Situation von mehreren hundert Millionen Indern. Denen fehlt für die Nutzung solcher Angebote das Geld. Das staatliche indische Gesundheitswesen gilt als rückständig, obwohl es beachtliche Erfolge bei der Versorgung mit Arzneimitteln gibt. Die exorbitanten Preise internationaler Pharmakonzerne wurden durch Nachahmerprodukte (Generika) zum Teil ausgehebelt. Aber nach wie vor mangelt es an Einrichtungen, teilweise müssen Patienten mehr als eine Tagesreise zur nächsten Krankenstation zurücklegen. Auch die Ausstattung ist schlecht. Das liegt daran, daß Indien lediglich 1,4 Prozent seiner Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) für das staatliche Gesundheitswesen ausgibt. Internationaler Durchschnitt: fünf Prozent. Gegenüber den anderen großen aufstrebenden Schwellenländern der BRICS-Gruppe (Brasilien, Rußland, China und Südafrika) sehen die einschlägigen Kennziffern in Indien am schlechtesten aus.

Pro 10000 Einwohner stehen demnach ganze neun Krankenhausbetten zur Verfügung. In Industriestaaten wie Deutschland, den USA oder Japan sind es 82, 31 bzw. 137. Selbst die Republik Südafrika – die vor allem aus politischen Motiven eingeladen wurde, der informellen BRIC-Gruppe beizutreten – bringt es auf 28 Betten, Brasilien auf 24. Noch schlechter sieht es beim Personal aus. Mit 13 Krankenschwestern pro 10000 Bewohner (quasi eine Kleinstadt) liegt Indien zwar mit China in etwa gleichauf, in westlichen Staaten pendeln die entsprechenden Zahlen um die 100. Bei Ärzten ist die Quote noch schlechter: Lediglich sechs akademisch ausgebildete Mediziner kommen auf 10000 Inder. Das ist weniger als die Hälfte derer in China (14), ganz zu schweigen von 35 in Deutschland, immerhin 28 in den USA und sogar 43 in Rußland. Um bei den Krankenhausbetten auf den internationalen Mittelwert von 24 zu kommen, wären Investitionen in Größenordnungen von 6000 Milliarden Rupien (etwa 87 Milliarden Euro) notwendig, so die Hochrechnungen von Experten. Bei der Säuglings- und Müttersterblichkeit, wo zweifellos Fortschritte erkennbar sind, sinken die Zahlen nur langsam, weil es an adäquaten Betreuungsangeboten mangelt. Die soziale Kluft, die sich gesamtgesellschaftlich bei dem anhaltend hohen Wirtschaftswachstum immer mehr vertieft, ist im indischen Gesundheitswesen deutlich zu erkennen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Juli 2012


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