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Massentod im "Land der Götter"

Nach Unglück im indischen Himachal Pradesh reißt Pilgerstrom nicht ab

Von Hilmar König, Delhi *

146 Tote und über 50 Verletzte, darunter rund die Hälfte Kinder und Frauen - so lautete am Montag die traurige Bilanz des Unglücks vom Vortag im nördlichen indischen Unionsstaat Himachal Pradesh, der wegen seiner Vielzahl an Hindutempeln auch den Beinamen »Land der Götter« trägt.

Eben eine Göttin, die mächtige Shakti, war den Pilgern am Sonntag zum Verhängnis geworden. Etwa 20 000 Hindus und Sikhs bevölkerten zum Zeitpunkt des Unglücks den Hügel an den Ausläufern des Himalaja. Auf der Spitze des Berges befindet sich der Naina-Devi-Schrein. Anlässlich des neuntägigen Festivals »Shravan Navratra«, von den Farmern auch als die heiligen Tage der Regenzeit begangen, wollten sie ihrer Göttin Opfergaben bringen und zugleich ihren Segen erbitten.

Eben das hatten gerade - um die Gunst der Shakti für einen kürzlich geborenen Sohn zu erlangen - auch die elf Angehörigen der Familie des 31 Jahre alten Bauern Mukesh Chabba aus dem benachbarten Punjab getan, als eine Panik ausbrach. Nur fünf Chabbas überlebten das Geschiebe, Gestoße, Getrampele und Gedränge. Andere Familien wurden ähnlich oder noch schlimmer dezimiert.

Über den Auslöser der Katastrophe liegen unterschiedliche Angaben vor. War es das Gerücht von einem Erdrutsch an einem der Berghänge an der 2,5 Kilometer langen, nach oben führenden Pilgerstrecke? War es ein abknickendes Geländer, das ein Dutzend Gläubige mit in die Tiefe riss? Tatsächlich kam es zu einer unaufhaltsamen Kollision zwischen in panischer Angst nach unten Drängenden und bergan Steigenden. Die Polizei wollte mit wildem Schlagstockeinsatz das Desaster aufhalten, erreichte aber genau das Gegenteil - ein vollständiges Chaos auf engstem Raum.

So tragisch und schrecklich das Geschehen vom Sonntag, dem zweiten Tag des Festivals, war -- bereits am Montag folgten wieder Tausende dem »Ruf der Göttin« auf den Berg. Im indischen Selbstverständnis war es »Karma«, vorherbestimmtes Schicksal, das die 146 Mitbürger ereilte. Die Behörden können sich mit einer solchen Einstellung freilich nicht zufrieden geben. Sie ergriffen bisher wohl vernachlässigte Vorkehrungen: Ab Montag säumten die Pilgerroute Kommandos der »Indo-tibetischen Grenzpolizei« sowie freiwillige Ordnungshüter, die strikt darauf achteten, dass Hindus und Sikhs im Gänsemarsch und mit einem Sicherheitsabstand zum Naina-Devi-Schrein kletterten.

Der Chefminister Himachal Pradeshs, Prem Kumar Dhumal, und Punjabs Chefminister Prakash Singh Badal ordneten nach dem Besuch der Unglücksstätte »maximale Sicherheit« für die Pilger an. Ein solches Unglück dürfe sich nie wiederholen. Sie stellten für jeden Todesfall 100 000 Rupien (knapp 2000 Euro) als Entschädigung zur Verfügung. Die Verletzten sollen kostenlos behandelt werden. Mit der noblen Geste ließ sich freilich nicht aus der Welt schaffen, dass es exakt an dieser Stelle bereits 1981 zu einer ähnlichen Katastrophe mit 53 Toten gekommen war. Das bislang schlimmste Unglück dieser Art ereignete sich aber nicht im »Land der Götter«, sondern im südwestlichen Unionsstaat Maharashtra. Dort waren 2005 über 250 Gläubige Opfer einer Panik geworden.

* Aus: Neues Deutschland, 5. August 2008


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