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Langer Marsch der Armen

Indien: Landlose fordern ihre Rechte

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Eine der größten Massenaktionen in Indiens Geschichte ging am Sonntag in ihre Endphase. 25000 landlose Feldarbeiter, kastenlose Dalits, Ureinwohner (Adivasi), Männer und Frauen aus den ärmsten Schichten erreichten nach einem 28 Tage dauernden Marsch unter der Losung »Janadesh« (Meinung des Volkes), der im mittelindischen Gwalior begonnen hatte, Neu-Delhi. Auf dem Ramlila Maidan, einem großen Platz in der Hauptstadt, versammelten sie sich zu einer Massenkundgebung, auf der auch Vertreter der linken Parteien das Wort ergriffen und sich an die Seite der Rechtlosen stellten. Am heutigen Montag ziehen die »Padyatris«, die Marschteilnehmer, auf ihrer letzten Etappe vor das Parlament, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Vor allem geht es um den Bodenbesitz. Schon während des Unabhängigkeitskampfes gegen die Briten hatte Mahatma Gandhi erklärt: »Politische Unabhängigkeit ist nur ein Schritt vorwärts zum Erlangen wirklicher Unabhängigkeit. Der nächste Schritt wird sein, jenen die Eigentumsrechte über ihren Boden zu geben, die ihn bearbeiten.« Auf diesen nächsten Schritt warten 60 Jahre nach der staatlichen Unabhängigkeit noch fast 70 Prozent der mehr als 1,1 Milliarden Inder. P.V. Rajagopal, der Cheforganisator der beeindruckenden Kampagne, erklärte: »Dieser gewaltlose Massenmarsch über 350 Kilometer hat seine Wurzeln in Leid und Armut, in den bitteren Erfahrungen Millionen landloser Feldarbeiter, vertriebener Adivasi, entrechteter Dalits sowie Klein- und Kleinstbauern.«

Die Padyatris stammen aus mehr als einem Dutzend indischer Bundesstaaten. Jeder der 25000 hat eine Geschichte über erlittenes Unrecht, Diskriminierung, Vertreibung, Gleichgültigkeit der Behörden oder Landraub seitens mächtiger Großgrundbesitzer, denen die Polizei nicht wagt, Paroli zu bieten, zu erzählen. Sie müssen Industrieprojekten, Dämmen, Stauseen, wirtschaftlichen Sonderzonen weichen. Ihnen wird im Namen des Naturschutzes der Zugang zu traditionellen Quellen ihres Lebensunterhalts gesperrt. Deshalb waren auf dem Marsch immer wieder Sprechchöre zu hören: »Wasser, Wald und Land gehören in des Volkes Hand«. Shiv Shankar, ein Dalit aus dem südindischen Tamil Nadu, berichtete: »Die Regierung ließ theoretisch Land an Dalits verteilen, doch in Wirklichkeit haben hochkastige Grundbesitzer den Boden mit Gewalt an sich gerissen. In meinem Dorf befindet sich das gesamte Ackerland in der Hand einer einzigen Person. Einzeln sind wir schwach. Die Regierung schützt uns nicht. Das ist der Grund, daß wir uns Janadesh anschlossen. Gemeinsam können wir hoffentlich etwas bewirken.«

Im Bundesstaat Madhya Pradesh haben die Padyatris einen Teilerfolg errungen. Der dortige Chefminister sicherte zu, den Janadesh-Forderungen Gesetzeskraft zu geben. Jetzt wartet man auf Taten der Zentralregierung. Bleiben die aus, so ­Rajagopal, dann wird eine noch mächtigere Massenkampagne gestartet.

* Aus: junge Welt, 29. Oktober 2007


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